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Lange, Helene: Frauenwahlrecht. In: Cosmopolis – an international monthly review, hrsg. v. F. Ortmans, Heft III. London u. a., 1896, S. 539–554.

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Man erfährt nur die uralte Wahrheit, dass kein Mensch über
seinen eigenen Schatten springen kann und dass jedem in
erster Linie als gut und heilsam erscheint, auch für die Gesamtheit,
was seiner Weltanschauung, seinen Interessen, die ihm
nun einmal das Weltcentrum sind, Förderung verspricht.
Diese Interessen vertritt nur er, bez. seine Partei; niemand
sonst würde sie mit gleicher Energie zur Geltung bringen. Die
Interessen der Anderen kann er seiner menschlichen Naturanlage
nach garnicht mit der gleichen Energie wie die eigenen
vertreten. "Ich suche vergebens ein Beispiel dafür, dass eine
Klasse ihre Herrschaft wirklich und ehrlich im Interesse einer
anderen Klasse oder in dem gleichmässigen Interesse aller
Klassen ausgeübt hätte." -- (Secretan.)

Mit dieser Wahrheit hat man sich in der Tat zu rechnen
entschlossen, als man das allgemeine Stimmrecht einführte.
Man erkannte damit formell an: jeder Stand kann nur allein
seine eigenen Interessen vertreten; sollen daher bei der
Volksvertretung die Interessen Aller zur Geltung kommen, so
müssen auch alle Stände und Berufsklassen zur Vertretung
gelangen können. Das ganze Parlament wird dann mit
derselben Sicherheit wie beim Parallelogramm der Kräfte in
seinen Beschlüssen die Auffassung der stärksten, d. h. durch
die zahlreichsten Vertreter zur Geltung gekommenen Parteien,
d. h, den Willen des Volkes darstellen. Dabei ist vieles fiktiv,
da die Wahlen unter dem Hochdruck der Regirung, der Kirche
oder andrer Machthaber stehen; das Schema aber ist richtig
gedacht.

Bis auf eine Kleinigkeit. Obwol niemand an den oben
ausgeführten Wahrheiten ernstlich zweifelt, ist eine Fiktion
doch immer aufrecht erhalten worden, die nämlich, dass die
Männer zugleich die Interessen der Frauen wahren. Musste
man auch zugeben, dass die Gesetzgebung in ihren Resultaten
die Ansicht der stärksten parlamentarischen Parteien repräsentirte,
so verschloss man sich der höchst einfachen Wahrheit,
dass alle Gesetzgebungen in ihren Gesamtresultaten die
Auffassung der Männer repräsentirten und nach dem oben
erörterten Grundsatz nie die wirklichen Interessen der Frauen
berücksichtigen, sondern nur auf Nutzen und Frommen der
Männer berechnet sein konnten.

Man erfährt nur die uralte Wahrheit, dass kein Mensch über
seinen eigenen Schatten springen kann und dass jedem in
erster Linie als gut und heilsam erscheint, auch für die Gesamtheit,
was seiner Weltanschauung, seinen Interessen, die ihm
nun einmal das Weltcentrum sind, Förderung verspricht.
Diese Interessen vertritt nur er, bez. seine Partei; niemand
sonst würde sie mit gleicher Energie zur Geltung bringen. Die
Interessen der Anderen kann er seiner menschlichen Naturanlage
nach garnicht mit der gleichen Energie wie die eigenen
vertreten. „Ich suche vergebens ein Beispiel dafür, dass eine
Klasse ihre Herrschaft wirklich und ehrlich im Interesse einer
anderen Klasse oder in dem gleichmässigen Interesse aller
Klassen ausgeübt hätte.“ — (Secrétan.)

Mit dieser Wahrheit hat man sich in der Tat zu rechnen
entschlossen, als man das allgemeine Stimmrecht einführte.
Man erkannte damit formell an: jeder Stand kann nur allein
seine eigenen Interessen vertreten; sollen daher bei der
Volksvertretung die Interessen Aller zur Geltung kommen, so
müssen auch alle Stände und Berufsklassen zur Vertretung
gelangen können. Das ganze Parlament wird dann mit
derselben Sicherheit wie beim Parallelogramm der Kräfte in
seinen Beschlüssen die Auffassung der stärksten, d. h. durch
die zahlreichsten Vertreter zur Geltung gekommenen Parteien,
d. h, den Willen des Volkes darstellen. Dabei ist vieles fiktiv,
da die Wahlen unter dem Hochdruck der Regirung, der Kirche
oder andrer Machthaber stehen; das Schema aber ist richtig
gedacht.

Bis auf eine Kleinigkeit. Obwol niemand an den oben
ausgeführten Wahrheiten ernstlich zweifelt, ist eine Fiktion
doch immer aufrecht erhalten worden, die nämlich, dass die
Männer zugleich die Interessen der Frauen wahren. Musste
man auch zugeben, dass die Gesetzgebung in ihren Resultaten
die Ansicht der stärksten parlamentarischen Parteien repräsentirte,
so verschloss man sich der höchst einfachen Wahrheit,
dass alle Gesetzgebungen in ihren Gesamtresultaten die
Auffassung der Männer repräsentirten und nach dem oben
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[540/0003] Man erfährt nur die uralte Wahrheit, dass kein Mensch über seinen eigenen Schatten springen kann und dass jedem in erster Linie als gut und heilsam erscheint, auch für die Gesamtheit, was seiner Weltanschauung, seinen Interessen, die ihm nun einmal das Weltcentrum sind, Förderung verspricht. Diese Interessen vertritt nur er, bez. seine Partei; niemand sonst würde sie mit gleicher Energie zur Geltung bringen. Die Interessen der Anderen kann er seiner menschlichen Naturanlage nach garnicht mit der gleichen Energie wie die eigenen vertreten. „Ich suche vergebens ein Beispiel dafür, dass eine Klasse ihre Herrschaft wirklich und ehrlich im Interesse einer anderen Klasse oder in dem gleichmässigen Interesse aller Klassen ausgeübt hätte.“ — (Secrétan.) Mit dieser Wahrheit hat man sich in der Tat zu rechnen entschlossen, als man das allgemeine Stimmrecht einführte. Man erkannte damit formell an: jeder Stand kann nur allein seine eigenen Interessen vertreten; sollen daher bei der Volksvertretung die Interessen Aller zur Geltung kommen, so müssen auch alle Stände und Berufsklassen zur Vertretung gelangen können. Das ganze Parlament wird dann mit derselben Sicherheit wie beim Parallelogramm der Kräfte in seinen Beschlüssen die Auffassung der stärksten, d. h. durch die zahlreichsten Vertreter zur Geltung gekommenen Parteien, d. h, den Willen des Volkes darstellen. Dabei ist vieles fiktiv, da die Wahlen unter dem Hochdruck der Regirung, der Kirche oder andrer Machthaber stehen; das Schema aber ist richtig gedacht. Bis auf eine Kleinigkeit. Obwol niemand an den oben ausgeführten Wahrheiten ernstlich zweifelt, ist eine Fiktion doch immer aufrecht erhalten worden, die nämlich, dass die Männer zugleich die Interessen der Frauen wahren. Musste man auch zugeben, dass die Gesetzgebung in ihren Resultaten die Ansicht der stärksten parlamentarischen Parteien repräsentirte, so verschloss man sich der höchst einfachen Wahrheit, dass alle Gesetzgebungen in ihren Gesamtresultaten die Auffassung der Männer repräsentirten und nach dem oben erörterten Grundsatz nie die wirklichen Interessen der Frauen berücksichtigen, sondern nur auf Nutzen und Frommen der Männer berechnet sein konnten.

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Zitationshilfe: Lange, Helene: Frauenwahlrecht. In: Cosmopolis – an international monthly review, hrsg. v. F. Ortmans, Heft III. London u. a., 1896, S. 539–554, hier S. 540. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lange_frauenwahlrecht_1896/3>, abgerufen am 23.04.2024.