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Lange, Helene: Die Frauen und das politische Leben. Berlin, 1909.

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zu; ein ebenso starker Zwillingsstrom ergießt sich zu den
beruflichen Arbeitsstätten. Unser Volk braucht nur noch die
Hälfte seiner weiblichen Kräfte, um Hauswesen zu leiten und
Kinder großzuziehen; es braucht die andere Hälfte, um
Maschinen zu bedienen, seine großen Exportindustrien, z. B.
die Konfektion, zu speisen; es braucht sie in Handel und
Verkehr, im Post- und Eisenbahndienst, in der Schule und im
Krankenhaus. Das sind Tatsachen, an denen auch die frömmsten
Wünsche und die beweglichsten Klagen nichts ändern.

Und diese Tatsachen stellen jeden, der sie sich einmal in
ihrem vollen Gewicht klargemacht hat, vor eine Welt neuer
sozialer Probleme. Wie soll sich in Zukunft die Stellung der
Frauen innerhalb der Gesellschaft, des Staates gestalten? Sollen
sie, die in Reih und Glied in der großen volkswirtschaftlichen
Arbeitsgemeinschaft stehen, die in dieser langen Kette jeden
dritten Posten besetzen, sollen sie in der Rechtsordnung des
sozialen Lebens noch so behandelt werden, als wenn die Mauer
des Hauses Schutz und Schranke für sie wäre? Selbst wer
mit allen Fasern seiner Seele und allen Sympathien seines
Herzens an der alten Zeit hängt, wird zugeben müssen, daß
hier neue Lebensformen entstanden sind, für welche die alten
Rechtsnormen nicht mehr ausreichen. Und wer auch nur so
viel geschichtliches Verständnis hat, um zu begreifen, daß der
moderne Staat mit all seinen Rechten und Pflichten, von der
Selbstverwaltung der kleinen Landgemeinde bis zu den gesetz-
lichen Vertretungen der Berufsinteressen in Handelskammern,
Gewerbegerichten und ähnlichen Jnstitutionen und schließlich
bis zum politischen Wahlrecht auf den modernen Arbeits-
verhältnissen beruht, aus ihnen hervorgegangen und durch sie
bedingt ist, wer eine Vorstellung davon hat, daß der moderne
Staat die Rechtsform für die moderne Volkswirtschaft ist, der
wird sich sagen, daß auch für die Frau mit einer Veränderung
ihrer Arbeitsleistungen und Arbeitsformen eine Neuregelung
ihres Verhältnisses zum Staat notwendig wird.

Als im Februar 1904 Graf Posadowsky im Reichstag die
denkwürdige Äußerung tat: "von der Politik sollen die Frauen

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zu; ein ebenso starker Zwillingsstrom ergießt sich zu den
beruflichen Arbeitsstätten. Unser Volk braucht nur noch die
Hälfte seiner weiblichen Kräfte, um Hauswesen zu leiten und
Kinder großzuziehen; es braucht die andere Hälfte, um
Maschinen zu bedienen, seine großen Exportindustrien, z. B.
die Konfektion, zu speisen; es braucht sie in Handel und
Verkehr, im Post- und Eisenbahndienst, in der Schule und im
Krankenhaus. Das sind Tatsachen, an denen auch die frömmsten
Wünsche und die beweglichsten Klagen nichts ändern.

Und diese Tatsachen stellen jeden, der sie sich einmal in
ihrem vollen Gewicht klargemacht hat, vor eine Welt neuer
sozialer Probleme. Wie soll sich in Zukunft die Stellung der
Frauen innerhalb der Gesellschaft, des Staates gestalten? Sollen
sie, die in Reih und Glied in der großen volkswirtschaftlichen
Arbeitsgemeinschaft stehen, die in dieser langen Kette jeden
dritten Posten besetzen, sollen sie in der Rechtsordnung des
sozialen Lebens noch so behandelt werden, als wenn die Mauer
des Hauses Schutz und Schranke für sie wäre? Selbst wer
mit allen Fasern seiner Seele und allen Sympathien seines
Herzens an der alten Zeit hängt, wird zugeben müssen, daß
hier neue Lebensformen entstanden sind, für welche die alten
Rechtsnormen nicht mehr ausreichen. Und wer auch nur so
viel geschichtliches Verständnis hat, um zu begreifen, daß der
moderne Staat mit all seinen Rechten und Pflichten, von der
Selbstverwaltung der kleinen Landgemeinde bis zu den gesetz-
lichen Vertretungen der Berufsinteressen in Handelskammern,
Gewerbegerichten und ähnlichen Jnstitutionen und schließlich
bis zum politischen Wahlrecht auf den modernen Arbeits-
verhältnissen beruht, aus ihnen hervorgegangen und durch sie
bedingt ist, wer eine Vorstellung davon hat, daß der moderne
Staat die Rechtsform für die moderne Volkswirtschaft ist, der
wird sich sagen, daß auch für die Frau mit einer Veränderung
ihrer Arbeitsleistungen und Arbeitsformen eine Neuregelung
ihres Verhältnisses zum Staat notwendig wird.

Als im Februar 1904 Graf Posadowsky im Reichstag die
denkwürdige Äußerung tat: „von der Politik sollen die Frauen

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[3/0009] zu; ein ebenso starker Zwillingsstrom ergießt sich zu den beruflichen Arbeitsstätten. Unser Volk braucht nur noch die Hälfte seiner weiblichen Kräfte, um Hauswesen zu leiten und Kinder großzuziehen; es braucht die andere Hälfte, um Maschinen zu bedienen, seine großen Exportindustrien, z. B. die Konfektion, zu speisen; es braucht sie in Handel und Verkehr, im Post- und Eisenbahndienst, in der Schule und im Krankenhaus. Das sind Tatsachen, an denen auch die frömmsten Wünsche und die beweglichsten Klagen nichts ändern. Und diese Tatsachen stellen jeden, der sie sich einmal in ihrem vollen Gewicht klargemacht hat, vor eine Welt neuer sozialer Probleme. Wie soll sich in Zukunft die Stellung der Frauen innerhalb der Gesellschaft, des Staates gestalten? Sollen sie, die in Reih und Glied in der großen volkswirtschaftlichen Arbeitsgemeinschaft stehen, die in dieser langen Kette jeden dritten Posten besetzen, sollen sie in der Rechtsordnung des sozialen Lebens noch so behandelt werden, als wenn die Mauer des Hauses Schutz und Schranke für sie wäre? Selbst wer mit allen Fasern seiner Seele und allen Sympathien seines Herzens an der alten Zeit hängt, wird zugeben müssen, daß hier neue Lebensformen entstanden sind, für welche die alten Rechtsnormen nicht mehr ausreichen. Und wer auch nur so viel geschichtliches Verständnis hat, um zu begreifen, daß der moderne Staat mit all seinen Rechten und Pflichten, von der Selbstverwaltung der kleinen Landgemeinde bis zu den gesetz- lichen Vertretungen der Berufsinteressen in Handelskammern, Gewerbegerichten und ähnlichen Jnstitutionen und schließlich bis zum politischen Wahlrecht auf den modernen Arbeits- verhältnissen beruht, aus ihnen hervorgegangen und durch sie bedingt ist, wer eine Vorstellung davon hat, daß der moderne Staat die Rechtsform für die moderne Volkswirtschaft ist, der wird sich sagen, daß auch für die Frau mit einer Veränderung ihrer Arbeitsleistungen und Arbeitsformen eine Neuregelung ihres Verhältnisses zum Staat notwendig wird. Als im Februar 1904 Graf Posadowsky im Reichstag die denkwürdige Äußerung tat: „von der Politik sollen die Frauen 1*

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Texte der ersten Frauenbewegung, betreut von Anna Pfundt und Thomas Gloning, JLU Gießen: Bereitstellung der Texttranskription. (2022-03-24T10:53:44Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Anna Pfundt, Dennis Dietrich: Bearbeitung der digitalen Edition. (2022-03-24T10:53:44Z)

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Zitationshilfe: Lange, Helene: Die Frauen und das politische Leben. Berlin, 1909, S. 3. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lange_frauen_1909/9>, abgerufen am 24.04.2024.