Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764.VI. Hauptstück. die der Dichter seines Enthusiasmus werth achtet, oderdie denselben bey ihm erweckt. Dieses macht, daß wenn auch ein Dichter sich das wahrhafte Edle, Erhabene und Feinere von dem Weltweisen bestimmen läßt, derselbe dennoch von Natur ein Geschicke haben muß, durch die Vorstellung desselben in den Enthusiasmus zu kommen, ohne welchen sein Gedicht von einer bloß historischen Nachricht nicht viel verschieden seyn würde. Die wah- re Größe eines Dichters wird demnach nicht nur aus dem Schwung der Gedanken, sondern vornehmlich auch aus den Gedanken selbst bestimmt. §. 279. Stellt aber der Dichter andere Charakter fern
VI. Hauptſtuͤck. die der Dichter ſeines Enthuſiaſmus werth achtet, oderdie denſelben bey ihm erweckt. Dieſes macht, daß wenn auch ein Dichter ſich das wahrhafte Edle, Erhabene und Feinere von dem Weltweiſen beſtimmen laͤßt, derſelbe dennoch von Natur ein Geſchicke haben muß, durch die Vorſtellung deſſelben in den Enthuſiaſmus zu kommen, ohne welchen ſein Gedicht von einer bloß hiſtoriſchen Nachricht nicht viel verſchieden ſeyn wuͤrde. Die wah- re Groͤße eines Dichters wird demnach nicht nur aus dem Schwung der Gedanken, ſondern vornehmlich auch aus den Gedanken ſelbſt beſtimmt. §. 279. Stellt aber der Dichter andere Charakter fern
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0436" n="430"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">VI.</hi> Hauptſtuͤck.</hi></fw><lb/> die der Dichter ſeines Enthuſiaſmus werth achtet, oder<lb/> die denſelben bey ihm erweckt. Dieſes macht, daß wenn<lb/> auch ein Dichter ſich das wahrhafte Edle, Erhabene und<lb/> Feinere von dem Weltweiſen beſtimmen laͤßt, derſelbe<lb/> dennoch von Natur ein Geſchicke haben muß, durch die<lb/> Vorſtellung deſſelben in den Enthuſiaſmus zu kommen,<lb/> ohne welchen ſein Gedicht von einer bloß hiſtoriſchen<lb/> Nachricht nicht viel verſchieden ſeyn wuͤrde. Die wah-<lb/> re Groͤße eines Dichters wird demnach nicht nur aus<lb/> dem Schwung der Gedanken, ſondern vornehmlich auch<lb/> aus den Gedanken ſelbſt beſtimmt.</p><lb/> <p>§. 279. Stellt aber der Dichter andere Charakter<lb/> vor, es ſey daß er ſie nur beſchreibt, oder ſie redend<lb/> einfuͤhrt, oder beydes zugleich thut, ſo muß er ſie eben-<lb/> falls mit dem Eindrucke vorſtellen, den ſie auf ſein Ge-<lb/> muͤth machen, wenn anders die Vorſtellung wirklich<lb/> poetiſch und nicht eine bloß hiſtoriſche Nachricht ſeyn<lb/> ſoll. Soll nun hiebey die Einſchraͤnkung der Moral<lb/> (§. 277.) ſeinem Enthuſiaſmus keinen Einhalt thun, ſo<lb/> iſt fuͤr ſich klar, daß die Gemuͤthsverfaſſung des Dich-<lb/> ters von Natur ſchon dazu muͤſſe eingerichtet ſeyn, das<lb/> Liebens- und Verabſcheuenswuͤrdige eines jeden Charak-<lb/> ters in das Gemaͤlde deſſelben mit einfließen zu laſſen.<lb/> Dieſes macht auch, daß der Dichter, wenn er andere re-<lb/> dend einfuͤhrt, einen gedoppelten Geſichtspunkt, und<lb/> oͤfters auch einen vielfachen zu ſeinem Gemaͤlde hat.<lb/> Einmal denjenigen, aus welchem die redend eingefuͤhrte<lb/> Perſon die Dinge betrachtet. Sodann auch diejenigen<lb/> Geſichtspunkte, aus welchen die Perſonen, mit denen ſie<lb/> redet, eben die Dinge anſehen. Und endlich der Ge-<lb/> ſichtspunkt, aus welchem der Dichter ſelbſt die ganze<lb/> Scene betrachten, und welcher zugleich auch der Ge-<lb/> ſichtspunkt ſeiner Leſer werden ſoll. Dieſer letztere<lb/> Geſichtspunkt unterſcheidet das Werk des Dichters, ſo<lb/> <fw place="bottom" type="catch">fern</fw><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [430/0436]
VI. Hauptſtuͤck.
die der Dichter ſeines Enthuſiaſmus werth achtet, oder
die denſelben bey ihm erweckt. Dieſes macht, daß wenn
auch ein Dichter ſich das wahrhafte Edle, Erhabene und
Feinere von dem Weltweiſen beſtimmen laͤßt, derſelbe
dennoch von Natur ein Geſchicke haben muß, durch die
Vorſtellung deſſelben in den Enthuſiaſmus zu kommen,
ohne welchen ſein Gedicht von einer bloß hiſtoriſchen
Nachricht nicht viel verſchieden ſeyn wuͤrde. Die wah-
re Groͤße eines Dichters wird demnach nicht nur aus
dem Schwung der Gedanken, ſondern vornehmlich auch
aus den Gedanken ſelbſt beſtimmt.
§. 279. Stellt aber der Dichter andere Charakter
vor, es ſey daß er ſie nur beſchreibt, oder ſie redend
einfuͤhrt, oder beydes zugleich thut, ſo muß er ſie eben-
falls mit dem Eindrucke vorſtellen, den ſie auf ſein Ge-
muͤth machen, wenn anders die Vorſtellung wirklich
poetiſch und nicht eine bloß hiſtoriſche Nachricht ſeyn
ſoll. Soll nun hiebey die Einſchraͤnkung der Moral
(§. 277.) ſeinem Enthuſiaſmus keinen Einhalt thun, ſo
iſt fuͤr ſich klar, daß die Gemuͤthsverfaſſung des Dich-
ters von Natur ſchon dazu muͤſſe eingerichtet ſeyn, das
Liebens- und Verabſcheuenswuͤrdige eines jeden Charak-
ters in das Gemaͤlde deſſelben mit einfließen zu laſſen.
Dieſes macht auch, daß der Dichter, wenn er andere re-
dend einfuͤhrt, einen gedoppelten Geſichtspunkt, und
oͤfters auch einen vielfachen zu ſeinem Gemaͤlde hat.
Einmal denjenigen, aus welchem die redend eingefuͤhrte
Perſon die Dinge betrachtet. Sodann auch diejenigen
Geſichtspunkte, aus welchen die Perſonen, mit denen ſie
redet, eben die Dinge anſehen. Und endlich der Ge-
ſichtspunkt, aus welchem der Dichter ſelbſt die ganze
Scene betrachten, und welcher zugleich auch der Ge-
ſichtspunkt ſeiner Leſer werden ſoll. Dieſer letztere
Geſichtspunkt unterſcheidet das Werk des Dichters, ſo
fern
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |