die der Dichter seines Enthusiasmus werth achtet, oder die denselben bey ihm erweckt. Dieses macht, daß wenn auch ein Dichter sich das wahrhafte Edle, Erhabene und Feinere von dem Weltweisen bestimmen läßt, derselbe dennoch von Natur ein Geschicke haben muß, durch die Vorstellung desselben in den Enthusiasmus zu kommen, ohne welchen sein Gedicht von einer bloß historischen Nachricht nicht viel verschieden seyn würde. Die wah- re Größe eines Dichters wird demnach nicht nur aus dem Schwung der Gedanken, sondern vornehmlich auch aus den Gedanken selbst bestimmt.
§. 279. Stellt aber der Dichter andere Charakter vor, es sey daß er sie nur beschreibt, oder sie redend einführt, oder beydes zugleich thut, so muß er sie eben- falls mit dem Eindrucke vorstellen, den sie auf sein Ge- müth machen, wenn anders die Vorstellung wirklich poetisch und nicht eine bloß historische Nachricht seyn soll. Soll nun hiebey die Einschränkung der Moral (§. 277.) seinem Enthusiasmus keinen Einhalt thun, so ist für sich klar, daß die Gemüthsverfassung des Dich- ters von Natur schon dazu müsse eingerichtet seyn, das Liebens- und Verabscheuenswürdige eines jeden Charak- ters in das Gemälde desselben mit einfließen zu lassen. Dieses macht auch, daß der Dichter, wenn er andere re- dend einführt, einen gedoppelten Gesichtspunkt, und öfters auch einen vielfachen zu seinem Gemälde hat. Einmal denjenigen, aus welchem die redend eingeführte Person die Dinge betrachtet. Sodann auch diejenigen Gesichtspunkte, aus welchen die Personen, mit denen sie redet, eben die Dinge ansehen. Und endlich der Ge- sichtspunkt, aus welchem der Dichter selbst die ganze Scene betrachten, und welcher zugleich auch der Ge- sichtspunkt seiner Leser werden soll. Dieser letztere Gesichtspunkt unterscheidet das Werk des Dichters, so
fern
VI. Hauptſtuͤck.
die der Dichter ſeines Enthuſiaſmus werth achtet, oder die denſelben bey ihm erweckt. Dieſes macht, daß wenn auch ein Dichter ſich das wahrhafte Edle, Erhabene und Feinere von dem Weltweiſen beſtimmen laͤßt, derſelbe dennoch von Natur ein Geſchicke haben muß, durch die Vorſtellung deſſelben in den Enthuſiaſmus zu kommen, ohne welchen ſein Gedicht von einer bloß hiſtoriſchen Nachricht nicht viel verſchieden ſeyn wuͤrde. Die wah- re Groͤße eines Dichters wird demnach nicht nur aus dem Schwung der Gedanken, ſondern vornehmlich auch aus den Gedanken ſelbſt beſtimmt.
§. 279. Stellt aber der Dichter andere Charakter vor, es ſey daß er ſie nur beſchreibt, oder ſie redend einfuͤhrt, oder beydes zugleich thut, ſo muß er ſie eben- falls mit dem Eindrucke vorſtellen, den ſie auf ſein Ge- muͤth machen, wenn anders die Vorſtellung wirklich poetiſch und nicht eine bloß hiſtoriſche Nachricht ſeyn ſoll. Soll nun hiebey die Einſchraͤnkung der Moral (§. 277.) ſeinem Enthuſiaſmus keinen Einhalt thun, ſo iſt fuͤr ſich klar, daß die Gemuͤthsverfaſſung des Dich- ters von Natur ſchon dazu muͤſſe eingerichtet ſeyn, das Liebens- und Verabſcheuenswuͤrdige eines jeden Charak- ters in das Gemaͤlde deſſelben mit einfließen zu laſſen. Dieſes macht auch, daß der Dichter, wenn er andere re- dend einfuͤhrt, einen gedoppelten Geſichtspunkt, und oͤfters auch einen vielfachen zu ſeinem Gemaͤlde hat. Einmal denjenigen, aus welchem die redend eingefuͤhrte Perſon die Dinge betrachtet. Sodann auch diejenigen Geſichtspunkte, aus welchen die Perſonen, mit denen ſie redet, eben die Dinge anſehen. Und endlich der Ge- ſichtspunkt, aus welchem der Dichter ſelbſt die ganze Scene betrachten, und welcher zugleich auch der Ge- ſichtspunkt ſeiner Leſer werden ſoll. Dieſer letztere Geſichtspunkt unterſcheidet das Werk des Dichters, ſo
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VI. Hauptſtuͤck.
die der Dichter ſeines Enthuſiaſmus werth achtet, oder
die denſelben bey ihm erweckt. Dieſes macht, daß wenn
auch ein Dichter ſich das wahrhafte Edle, Erhabene und
Feinere von dem Weltweiſen beſtimmen laͤßt, derſelbe
dennoch von Natur ein Geſchicke haben muß, durch die
Vorſtellung deſſelben in den Enthuſiaſmus zu kommen,
ohne welchen ſein Gedicht von einer bloß hiſtoriſchen
Nachricht nicht viel verſchieden ſeyn wuͤrde. Die wah-
re Groͤße eines Dichters wird demnach nicht nur aus
dem Schwung der Gedanken, ſondern vornehmlich auch
aus den Gedanken ſelbſt beſtimmt.
§. 279. Stellt aber der Dichter andere Charakter
vor, es ſey daß er ſie nur beſchreibt, oder ſie redend
einfuͤhrt, oder beydes zugleich thut, ſo muß er ſie eben-
falls mit dem Eindrucke vorſtellen, den ſie auf ſein Ge-
muͤth machen, wenn anders die Vorſtellung wirklich
poetiſch und nicht eine bloß hiſtoriſche Nachricht ſeyn
ſoll. Soll nun hiebey die Einſchraͤnkung der Moral
(§. 277.) ſeinem Enthuſiaſmus keinen Einhalt thun, ſo
iſt fuͤr ſich klar, daß die Gemuͤthsverfaſſung des Dich-
ters von Natur ſchon dazu muͤſſe eingerichtet ſeyn, das
Liebens- und Verabſcheuenswuͤrdige eines jeden Charak-
ters in das Gemaͤlde deſſelben mit einfließen zu laſſen.
Dieſes macht auch, daß der Dichter, wenn er andere re-
dend einfuͤhrt, einen gedoppelten Geſichtspunkt, und
oͤfters auch einen vielfachen zu ſeinem Gemaͤlde hat.
Einmal denjenigen, aus welchem die redend eingefuͤhrte
Perſon die Dinge betrachtet. Sodann auch diejenigen
Geſichtspunkte, aus welchen die Perſonen, mit denen ſie
redet, eben die Dinge anſehen. Und endlich der Ge-
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Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764, S. 430. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/436>, abgerufen am 19.07.2024.
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