Gedanken gehört ebenfalls hieher, und kann uns zu ähn- lichen Absichten dienen, weil dadurch Leichtsinnigkeit, Unbedachtsamkeit, Jrrthum und Uebereilung vermieden werden kann, und weil wir uns ohne ein solches Zurück- denken von jedem Blendwerke des Scheins würden hin- reißen lassen. Wir stellen uns dadurch mit Bewußt- seyn in den Gesichtspunkt, in welchem wir uns ohnehin befinden. Dieses Bewußtseyn aber macht uns zugleich, daß wir in Stand gesetzt werden, das bloß Scheinbare in unsern Vorstellungen von dem Wahren zu unter- scheiden, und die Seite, von welcher wir uns die Sache vorstellen, schlechthin als eine Seite, nicht aber als die ganze Sache anzusehen.
§. 273. Das allgemeinste Mittel aber, sowohl die Sachen als ihren Schein und die Begriffe zu bezeich- nen, giebt uns die Sprache an, wenn wir nämlich das, was uns die Sache, aus jedem Gesichtspunkt be- trachtet, zu seyn scheint, und so auch, was sie an sich ist, mit Worten beschreiben. Wir haben bereits im zwey- ten Hauptstücke (§. 91. seqq.) angemerkt, daß es bey Erfahrungen, Beobachtungen und Versuchen nothwen- dig sey, den physischen Schein zu beschreiben, damit man das Wahre sodann durch Schlüsse herausbringen, und dadurch das Geschlossene von dem Beobachteten genau unterscheiden könne. Die verschiedenen Fälle, die sich dabey eräugnen, haben wir ebendaselbst bereits ange- führt. Werden uns aber Erfahrungen von andern er- zählt, und dabey der Schein mit dem Wahren, oder mit dem, was ihnen wahr zu seyn vorkam, vermengt, so kömmt ebenfalls auch die Frage vor, wie ferne wir aus der Erzählung den Schein, so wie er bey der Er- fahrung war, wieder heraus bringen können? Läßt sich dieses thun, so sind wir auch besser im Stande, zu be- urtheilen, ob das Wahre richtig daraus geschlossen wor- den. Man sehe, was wir in vorhergehendem Haupt-
stücke
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Von der Zeichnung des Scheins.
Gedanken gehoͤrt ebenfalls hieher, und kann uns zu aͤhn- lichen Abſichten dienen, weil dadurch Leichtſinnigkeit, Unbedachtſamkeit, Jrrthum und Uebereilung vermieden werden kann, und weil wir uns ohne ein ſolches Zuruͤck- denken von jedem Blendwerke des Scheins wuͤrden hin- reißen laſſen. Wir ſtellen uns dadurch mit Bewußt- ſeyn in den Geſichtspunkt, in welchem wir uns ohnehin befinden. Dieſes Bewußtſeyn aber macht uns zugleich, daß wir in Stand geſetzt werden, das bloß Scheinbare in unſern Vorſtellungen von dem Wahren zu unter- ſcheiden, und die Seite, von welcher wir uns die Sache vorſtellen, ſchlechthin als eine Seite, nicht aber als die ganze Sache anzuſehen.
§. 273. Das allgemeinſte Mittel aber, ſowohl die Sachen als ihren Schein und die Begriffe zu bezeich- nen, giebt uns die Sprache an, wenn wir naͤmlich das, was uns die Sache, aus jedem Geſichtspunkt be- trachtet, zu ſeyn ſcheint, und ſo auch, was ſie an ſich iſt, mit Worten beſchreiben. Wir haben bereits im zwey- ten Hauptſtuͤcke (§. 91. ſeqq.) angemerkt, daß es bey Erfahrungen, Beobachtungen und Verſuchen nothwen- dig ſey, den phyſiſchen Schein zu beſchreiben, damit man das Wahre ſodann durch Schluͤſſe herausbringen, und dadurch das Geſchloſſene von dem Beobachteten genau unterſcheiden koͤnne. Die verſchiedenen Faͤlle, die ſich dabey eraͤugnen, haben wir ebendaſelbſt bereits ange- fuͤhrt. Werden uns aber Erfahrungen von andern er- zaͤhlt, und dabey der Schein mit dem Wahren, oder mit dem, was ihnen wahr zu ſeyn vorkam, vermengt, ſo koͤmmt ebenfalls auch die Frage vor, wie ferne wir aus der Erzaͤhlung den Schein, ſo wie er bey der Er- fahrung war, wieder heraus bringen koͤnnen? Laͤßt ſich dieſes thun, ſo ſind wir auch beſſer im Stande, zu be- urtheilen, ob das Wahre richtig daraus geſchloſſen wor- den. Man ſehe, was wir in vorhergehendem Haupt-
ſtuͤcke
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Von der Zeichnung des Scheins.
Gedanken gehoͤrt ebenfalls hieher, und kann uns zu aͤhn-
lichen Abſichten dienen, weil dadurch Leichtſinnigkeit,
Unbedachtſamkeit, Jrrthum und Uebereilung vermieden
werden kann, und weil wir uns ohne ein ſolches Zuruͤck-
denken von jedem Blendwerke des Scheins wuͤrden hin-
reißen laſſen. Wir ſtellen uns dadurch mit Bewußt-
ſeyn in den Geſichtspunkt, in welchem wir uns ohnehin
befinden. Dieſes Bewußtſeyn aber macht uns zugleich,
daß wir in Stand geſetzt werden, das bloß Scheinbare
in unſern Vorſtellungen von dem Wahren zu unter-
ſcheiden, und die Seite, von welcher wir uns die Sache
vorſtellen, ſchlechthin als eine Seite, nicht aber als die
ganze Sache anzuſehen.
§. 273. Das allgemeinſte Mittel aber, ſowohl die
Sachen als ihren Schein und die Begriffe zu bezeich-
nen, giebt uns die Sprache an, wenn wir naͤmlich
das, was uns die Sache, aus jedem Geſichtspunkt be-
trachtet, zu ſeyn ſcheint, und ſo auch, was ſie an ſich iſt,
mit Worten beſchreiben. Wir haben bereits im zwey-
ten Hauptſtuͤcke (§. 91. ſeqq.) angemerkt, daß es bey
Erfahrungen, Beobachtungen und Verſuchen nothwen-
dig ſey, den phyſiſchen Schein zu beſchreiben, damit man
das Wahre ſodann durch Schluͤſſe herausbringen, und
dadurch das Geſchloſſene von dem Beobachteten genau
unterſcheiden koͤnne. Die verſchiedenen Faͤlle, die ſich
dabey eraͤugnen, haben wir ebendaſelbſt bereits ange-
fuͤhrt. Werden uns aber Erfahrungen von andern er-
zaͤhlt, und dabey der Schein mit dem Wahren, oder
mit dem, was ihnen wahr zu ſeyn vorkam, vermengt,
ſo koͤmmt ebenfalls auch die Frage vor, wie ferne wir
aus der Erzaͤhlung den Schein, ſo wie er bey der Er-
fahrung war, wieder heraus bringen koͤnnen? Laͤßt ſich
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Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764, S. 425. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/431>, abgerufen am 19.07.2024.
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