Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764.

Bild:
<< vorherige Seite

IV. Hauptstück.
mäßigen, oder in die ächten Schranken zu bringen. Jst
aber die Sache so weit gekommen, daß man entweder
nicht mehr nachlassen will, oder nicht mehr kann, so ist
es sehr gewöhnlich, daß man wider die den Affect ein-
schränkende Wahrheit Zweifel aufsucht, und sie auch
da zu finden glaubt, wo kaum ein Anschein war. Wir
haben zu Anfang dieses Hauptstückes (§. 127.) schon an-
gemerkt, wie in der Religion und Sittenlehre aus sol-
chen Gründen willkührliche Aenderungen vorgenommen
worden, und wie leicht das Herz sich zu einem Vertrag
bequemt, einzelne Stücke daraus gar nicht oder anders
zu glauben. Eine richtige und vollständige Theorie
von dem Einfluß des Temperaments auf die Religion,
welche auf psychologischen und medicinischen Gründen
beruhen soll, ist in dieser Absicht von nicht geringer Wich-
tigkeit.

§. 142. Die Vorurtheile und vorgefaßten Mey-
nungen sind gewöhnlich auch mit Affecten verbunden.
Ein zu großes Zutrauen auf eigene Einsicht; eine
übertriebene Verehrung gegen die Einsicht eines an-
dern Menschen; die Besorgniß, man möchte in Able-
gung einer Meynung etwas von seinem Ansehen verlie-
ren, zumal nachdem man sie zu dictatorisch behauptet;
die Hoffnung, sich mit Behauptung einer seltsamen
Meynung einen Namen zu machen etc. sind gewöhnlich
die verdeckteren Triebfedern, wodurch man bey Jrrthü-
mern bleibt, und gegen Wahrheiten Zweifel zu erregen
sucht, so sehr man sich auch mit der Liebe zur Wahrheit
schmeichelt, oder auch gar die, so anderer Meynung
sind, eines Vorurtheils beschuldigt. Man hat ange-
merkt, daß die Affecten gewöhnlich alsdann reger wer-
den, wenn jemand entweder aus Unwissenheit seine Mey-
nung nicht klar genug erweisen kann, oder wenn sie sich
entweder gar nicht oder nur zum Theil beweisen läßt,
und daß hingegen die größten Geister die bescheidensten

sind.

IV. Hauptſtuͤck.
maͤßigen, oder in die aͤchten Schranken zu bringen. Jſt
aber die Sache ſo weit gekommen, daß man entweder
nicht mehr nachlaſſen will, oder nicht mehr kann, ſo iſt
es ſehr gewoͤhnlich, daß man wider die den Affect ein-
ſchraͤnkende Wahrheit Zweifel aufſucht, und ſie auch
da zu finden glaubt, wo kaum ein Anſchein war. Wir
haben zu Anfang dieſes Hauptſtuͤckes (§. 127.) ſchon an-
gemerkt, wie in der Religion und Sittenlehre aus ſol-
chen Gruͤnden willkuͤhrliche Aenderungen vorgenommen
worden, und wie leicht das Herz ſich zu einem Vertrag
bequemt, einzelne Stuͤcke daraus gar nicht oder anders
zu glauben. Eine richtige und vollſtaͤndige Theorie
von dem Einfluß des Temperaments auf die Religion,
welche auf pſychologiſchen und mediciniſchen Gruͤnden
beruhen ſoll, iſt in dieſer Abſicht von nicht geringer Wich-
tigkeit.

§. 142. Die Vorurtheile und vorgefaßten Mey-
nungen ſind gewoͤhnlich auch mit Affecten verbunden.
Ein zu großes Zutrauen auf eigene Einſicht; eine
uͤbertriebene Verehrung gegen die Einſicht eines an-
dern Menſchen; die Beſorgniß, man moͤchte in Able-
gung einer Meynung etwas von ſeinem Anſehen verlie-
ren, zumal nachdem man ſie zu dictatoriſch behauptet;
die Hoffnung, ſich mit Behauptung einer ſeltſamen
Meynung einen Namen zu machen ꝛc. ſind gewoͤhnlich
die verdeckteren Triebfedern, wodurch man bey Jrrthuͤ-
mern bleibt, und gegen Wahrheiten Zweifel zu erregen
ſucht, ſo ſehr man ſich auch mit der Liebe zur Wahrheit
ſchmeichelt, oder auch gar die, ſo anderer Meynung
ſind, eines Vorurtheils beſchuldigt. Man hat ange-
merkt, daß die Affecten gewoͤhnlich alsdann reger wer-
den, wenn jemand entweder aus Unwiſſenheit ſeine Mey-
nung nicht klar genug erweiſen kann, oder wenn ſie ſich
entweder gar nicht oder nur zum Theil beweiſen laͤßt,
und daß hingegen die groͤßten Geiſter die beſcheidenſten

ſind.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0318" n="312"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">IV.</hi> Haupt&#x017F;tu&#x0364;ck.</hi></fw><lb/>
ma&#x0364;ßigen, oder in die a&#x0364;chten Schranken zu bringen. J&#x017F;t<lb/>
aber die Sache &#x017F;o weit gekommen, daß man entweder<lb/>
nicht mehr nachla&#x017F;&#x017F;en will, oder nicht mehr kann, &#x017F;o i&#x017F;t<lb/>
es &#x017F;ehr gewo&#x0364;hnlich, daß man wider die den Affect ein-<lb/>
&#x017F;chra&#x0364;nkende Wahrheit <hi rendition="#fr">Zweifel</hi> auf&#x017F;ucht, und &#x017F;ie auch<lb/>
da zu finden glaubt, wo kaum ein An&#x017F;chein war. Wir<lb/>
haben zu Anfang die&#x017F;es Haupt&#x017F;tu&#x0364;ckes (§. 127.) &#x017F;chon an-<lb/>
gemerkt, wie in der Religion und Sittenlehre aus &#x017F;ol-<lb/>
chen Gru&#x0364;nden willku&#x0364;hrliche Aenderungen vorgenommen<lb/>
worden, und wie leicht das Herz &#x017F;ich zu einem Vertrag<lb/>
bequemt, einzelne Stu&#x0364;cke daraus gar nicht oder anders<lb/>
zu glauben. Eine richtige und voll&#x017F;ta&#x0364;ndige Theorie<lb/>
von dem Einfluß des Temperaments auf die Religion,<lb/>
welche auf p&#x017F;ychologi&#x017F;chen und medicini&#x017F;chen Gru&#x0364;nden<lb/>
beruhen &#x017F;oll, i&#x017F;t in die&#x017F;er Ab&#x017F;icht von nicht geringer Wich-<lb/>
tigkeit.</p><lb/>
          <p>§. 142. Die Vorurtheile und vorgefaßten Mey-<lb/>
nungen &#x017F;ind gewo&#x0364;hnlich auch mit Affecten verbunden.<lb/>
Ein zu großes <hi rendition="#fr">Zutrauen</hi> auf eigene Ein&#x017F;icht; eine<lb/>
u&#x0364;bertriebene <hi rendition="#fr">Verehrung</hi> gegen die Ein&#x017F;icht eines an-<lb/>
dern Men&#x017F;chen; die <hi rendition="#fr">Be&#x017F;orgniß,</hi> man mo&#x0364;chte in Able-<lb/>
gung einer Meynung etwas von &#x017F;einem An&#x017F;ehen verlie-<lb/>
ren, zumal nachdem man &#x017F;ie zu dictatori&#x017F;ch behauptet;<lb/>
die <hi rendition="#fr">Hoffnung,</hi> &#x017F;ich mit Behauptung einer &#x017F;elt&#x017F;amen<lb/>
Meynung einen Namen zu machen &#xA75B;c. &#x017F;ind gewo&#x0364;hnlich<lb/>
die verdeckteren Triebfedern, wodurch man bey Jrrthu&#x0364;-<lb/>
mern bleibt, und gegen Wahrheiten Zweifel zu erregen<lb/>
&#x017F;ucht, &#x017F;o &#x017F;ehr man &#x017F;ich auch mit der Liebe zur Wahrheit<lb/>
&#x017F;chmeichelt, oder auch gar die, &#x017F;o anderer Meynung<lb/>
&#x017F;ind, eines Vorurtheils be&#x017F;chuldigt. Man hat ange-<lb/>
merkt, daß die Affecten gewo&#x0364;hnlich alsdann reger wer-<lb/>
den, wenn jemand entweder aus Unwi&#x017F;&#x017F;enheit &#x017F;eine Mey-<lb/>
nung nicht klar genug erwei&#x017F;en kann, oder wenn &#x017F;ie &#x017F;ich<lb/>
entweder gar nicht oder nur zum Theil bewei&#x017F;en la&#x0364;ßt,<lb/>
und daß hingegen die gro&#x0364;ßten Gei&#x017F;ter die be&#x017F;cheiden&#x017F;ten<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x017F;ind.</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[312/0318] IV. Hauptſtuͤck. maͤßigen, oder in die aͤchten Schranken zu bringen. Jſt aber die Sache ſo weit gekommen, daß man entweder nicht mehr nachlaſſen will, oder nicht mehr kann, ſo iſt es ſehr gewoͤhnlich, daß man wider die den Affect ein- ſchraͤnkende Wahrheit Zweifel aufſucht, und ſie auch da zu finden glaubt, wo kaum ein Anſchein war. Wir haben zu Anfang dieſes Hauptſtuͤckes (§. 127.) ſchon an- gemerkt, wie in der Religion und Sittenlehre aus ſol- chen Gruͤnden willkuͤhrliche Aenderungen vorgenommen worden, und wie leicht das Herz ſich zu einem Vertrag bequemt, einzelne Stuͤcke daraus gar nicht oder anders zu glauben. Eine richtige und vollſtaͤndige Theorie von dem Einfluß des Temperaments auf die Religion, welche auf pſychologiſchen und mediciniſchen Gruͤnden beruhen ſoll, iſt in dieſer Abſicht von nicht geringer Wich- tigkeit. §. 142. Die Vorurtheile und vorgefaßten Mey- nungen ſind gewoͤhnlich auch mit Affecten verbunden. Ein zu großes Zutrauen auf eigene Einſicht; eine uͤbertriebene Verehrung gegen die Einſicht eines an- dern Menſchen; die Beſorgniß, man moͤchte in Able- gung einer Meynung etwas von ſeinem Anſehen verlie- ren, zumal nachdem man ſie zu dictatoriſch behauptet; die Hoffnung, ſich mit Behauptung einer ſeltſamen Meynung einen Namen zu machen ꝛc. ſind gewoͤhnlich die verdeckteren Triebfedern, wodurch man bey Jrrthuͤ- mern bleibt, und gegen Wahrheiten Zweifel zu erregen ſucht, ſo ſehr man ſich auch mit der Liebe zur Wahrheit ſchmeichelt, oder auch gar die, ſo anderer Meynung ſind, eines Vorurtheils beſchuldigt. Man hat ange- merkt, daß die Affecten gewoͤhnlich alsdann reger wer- den, wenn jemand entweder aus Unwiſſenheit ſeine Mey- nung nicht klar genug erweiſen kann, oder wenn ſie ſich entweder gar nicht oder nur zum Theil beweiſen laͤßt, und daß hingegen die groͤßten Geiſter die beſcheidenſten ſind.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/318
Zitationshilfe: Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764, S. 312. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/318>, abgerufen am 23.11.2024.