ihrer Elle, weil sie eben nicht geneigt sind, ihn für besser anzusehen, als sie selbst sind. So verfällt man auch leicht in die Uebereilung, bey physischem Uebel mo- ralisches zu suchen, Unglücke als Strafen anzusehen, und zu Handlungen, die schlechthin physisch sind, Moralitä- ten, die dabey nicht statt haben, hinzuzusetzen, besonders wo Wohlwollen oder Haß in das Urtheil einen Einfluß haben, so man darüber fällt. Man wird auch in den oben (§. 113. 107. 108.) angemerkten Fällen ohne Mühe einen vielfachen Einfluß der Affecten finden.
§. 139. Die Affecten sind überhaupt eine subjective Quelle des Scheins, und haben daher mit jedem Sub- jectiven dieses gemein, daß sie die von ihnen herrüh- rende Veränderung in der Vorstellung der Dinge zu- gleich auf mehrere ausbreiten. Dieser Isochronisinus ist in vielen Fällen sehr merklich. Wer alles leicht ta- delt und für thöricht hält, hat ein von Natur verdrießli- ches Gemüth, oder eine Gewohnheit, sich jede Sache von der schlimmern Seite vorzustellen, oder es sieht sonst übel in ihm aus. Die Begierde, immer recht zu haben, gehört ebenfalls hieher, weil sie mit einer über- triebenen Eigenliebe und Vertrauen auf seine Kräfte verbunden ist. Jn aufgeräumten oder verdrießlichen Stunden sieht man die Dinge ganz anders an, als bey ruhigem Gemüthe. Es sollte aber allerdings, was man bey ruhigem Gemüthe findet, und urtheilt, der Maaß- stab seyn, nach welchem das übrige geschätzt werden muß. Und dieses geht besonders auf den Grad der Erheblichkeit der Wahrheiten, welche von Affecten ver- dunkelt, und mehr oder minder wichtig, als sie an sich sind, vorgestellt werden können.
§. 140. Die mit den Affecten verbundenen Vorstel- lungen nehmen gewöhnlich die Seele ganz ein, und schwächen das Bewußtseyn der übrigen, und wo dieses nicht ganz geschieht, oder wo man andern Empfindun-
gen
IV. Hauptſtuͤck.
ihrer Elle, weil ſie eben nicht geneigt ſind, ihn fuͤr beſſer anzuſehen, als ſie ſelbſt ſind. So verfaͤllt man auch leicht in die Uebereilung, bey phyſiſchem Uebel mo- raliſches zu ſuchen, Ungluͤcke als Strafen anzuſehen, und zu Handlungen, die ſchlechthin phyſiſch ſind, Moralitaͤ- ten, die dabey nicht ſtatt haben, hinzuzuſetzen, beſonders wo Wohlwollen oder Haß in das Urtheil einen Einfluß haben, ſo man daruͤber faͤllt. Man wird auch in den oben (§. 113. 107. 108.) angemerkten Faͤllen ohne Muͤhe einen vielfachen Einfluß der Affecten finden.
§. 139. Die Affecten ſind uͤberhaupt eine ſubjective Quelle des Scheins, und haben daher mit jedem Sub- jectiven dieſes gemein, daß ſie die von ihnen herruͤh- rende Veraͤnderung in der Vorſtellung der Dinge zu- gleich auf mehrere ausbreiten. Dieſer Iſochroniſinus iſt in vielen Faͤllen ſehr merklich. Wer alles leicht ta- delt und fuͤr thoͤricht haͤlt, hat ein von Natur verdrießli- ches Gemuͤth, oder eine Gewohnheit, ſich jede Sache von der ſchlimmern Seite vorzuſtellen, oder es ſieht ſonſt uͤbel in ihm aus. Die Begierde, immer recht zu haben, gehoͤrt ebenfalls hieher, weil ſie mit einer uͤber- triebenen Eigenliebe und Vertrauen auf ſeine Kraͤfte verbunden iſt. Jn aufgeraͤumten oder verdrießlichen Stunden ſieht man die Dinge ganz anders an, als bey ruhigem Gemuͤthe. Es ſollte aber allerdings, was man bey ruhigem Gemuͤthe findet, und urtheilt, der Maaß- ſtab ſeyn, nach welchem das uͤbrige geſchaͤtzt werden muß. Und dieſes geht beſonders auf den Grad der Erheblichkeit der Wahrheiten, welche von Affecten ver- dunkelt, und mehr oder minder wichtig, als ſie an ſich ſind, vorgeſtellt werden koͤnnen.
§. 140. Die mit den Affecten verbundenen Vorſtel- lungen nehmen gewoͤhnlich die Seele ganz ein, und ſchwaͤchen das Bewußtſeyn der uͤbrigen, und wo dieſes nicht ganz geſchieht, oder wo man andern Empfindun-
gen
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0316"n="310"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b"><hirendition="#aq">IV.</hi> Hauptſtuͤck.</hi></fw><lb/><hirendition="#fr">ihrer Elle,</hi> weil ſie eben nicht geneigt ſind, ihn fuͤr<lb/>
beſſer anzuſehen, als ſie ſelbſt ſind. So verfaͤllt man<lb/>
auch leicht in die Uebereilung, bey phyſiſchem Uebel mo-<lb/>
raliſches zu ſuchen, Ungluͤcke als Strafen anzuſehen, und<lb/>
zu Handlungen, die ſchlechthin phyſiſch ſind, Moralitaͤ-<lb/>
ten, die dabey nicht ſtatt haben, hinzuzuſetzen, beſonders<lb/>
wo Wohlwollen oder Haß in das Urtheil einen Einfluß<lb/>
haben, ſo man daruͤber faͤllt. Man wird auch in den<lb/>
oben (§. 113. 107. 108.) angemerkten Faͤllen ohne Muͤhe<lb/>
einen vielfachen Einfluß der Affecten finden.</p><lb/><p>§. 139. Die Affecten ſind uͤberhaupt eine ſubjective<lb/>
Quelle des Scheins, und haben daher mit jedem Sub-<lb/>
jectiven dieſes gemein, daß ſie die von ihnen herruͤh-<lb/>
rende Veraͤnderung in der Vorſtellung der Dinge zu-<lb/>
gleich auf mehrere ausbreiten. Dieſer <hirendition="#aq">Iſochroniſinus</hi><lb/>
iſt in vielen Faͤllen ſehr merklich. Wer alles leicht ta-<lb/>
delt und fuͤr thoͤricht haͤlt, hat ein von Natur verdrießli-<lb/>
ches Gemuͤth, oder eine Gewohnheit, ſich jede Sache<lb/>
von der ſchlimmern Seite vorzuſtellen, oder es ſieht<lb/>ſonſt uͤbel in ihm aus. Die Begierde, immer recht zu<lb/>
haben, gehoͤrt ebenfalls hieher, weil ſie mit einer uͤber-<lb/>
triebenen Eigenliebe und Vertrauen auf ſeine Kraͤfte<lb/>
verbunden iſt. Jn aufgeraͤumten oder verdrießlichen<lb/>
Stunden ſieht man die Dinge ganz anders an, als bey<lb/>
ruhigem Gemuͤthe. Es ſollte aber allerdings, was man<lb/>
bey ruhigem Gemuͤthe findet, und urtheilt, der Maaß-<lb/>ſtab ſeyn, nach welchem das uͤbrige geſchaͤtzt werden<lb/>
muß. Und dieſes geht beſonders auf den Grad der<lb/>
Erheblichkeit der Wahrheiten, welche von Affecten ver-<lb/>
dunkelt, und mehr oder minder wichtig, als ſie an ſich<lb/>ſind, vorgeſtellt werden koͤnnen.</p><lb/><p>§. 140. Die mit den Affecten verbundenen Vorſtel-<lb/>
lungen nehmen gewoͤhnlich die Seele ganz ein, und<lb/>ſchwaͤchen das Bewußtſeyn der uͤbrigen, und wo dieſes<lb/>
nicht ganz geſchieht, oder wo man andern Empfindun-<lb/><fwplace="bottom"type="catch">gen</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[310/0316]
IV. Hauptſtuͤck.
ihrer Elle, weil ſie eben nicht geneigt ſind, ihn fuͤr
beſſer anzuſehen, als ſie ſelbſt ſind. So verfaͤllt man
auch leicht in die Uebereilung, bey phyſiſchem Uebel mo-
raliſches zu ſuchen, Ungluͤcke als Strafen anzuſehen, und
zu Handlungen, die ſchlechthin phyſiſch ſind, Moralitaͤ-
ten, die dabey nicht ſtatt haben, hinzuzuſetzen, beſonders
wo Wohlwollen oder Haß in das Urtheil einen Einfluß
haben, ſo man daruͤber faͤllt. Man wird auch in den
oben (§. 113. 107. 108.) angemerkten Faͤllen ohne Muͤhe
einen vielfachen Einfluß der Affecten finden.
§. 139. Die Affecten ſind uͤberhaupt eine ſubjective
Quelle des Scheins, und haben daher mit jedem Sub-
jectiven dieſes gemein, daß ſie die von ihnen herruͤh-
rende Veraͤnderung in der Vorſtellung der Dinge zu-
gleich auf mehrere ausbreiten. Dieſer Iſochroniſinus
iſt in vielen Faͤllen ſehr merklich. Wer alles leicht ta-
delt und fuͤr thoͤricht haͤlt, hat ein von Natur verdrießli-
ches Gemuͤth, oder eine Gewohnheit, ſich jede Sache
von der ſchlimmern Seite vorzuſtellen, oder es ſieht
ſonſt uͤbel in ihm aus. Die Begierde, immer recht zu
haben, gehoͤrt ebenfalls hieher, weil ſie mit einer uͤber-
triebenen Eigenliebe und Vertrauen auf ſeine Kraͤfte
verbunden iſt. Jn aufgeraͤumten oder verdrießlichen
Stunden ſieht man die Dinge ganz anders an, als bey
ruhigem Gemuͤthe. Es ſollte aber allerdings, was man
bey ruhigem Gemuͤthe findet, und urtheilt, der Maaß-
ſtab ſeyn, nach welchem das uͤbrige geſchaͤtzt werden
muß. Und dieſes geht beſonders auf den Grad der
Erheblichkeit der Wahrheiten, welche von Affecten ver-
dunkelt, und mehr oder minder wichtig, als ſie an ſich
ſind, vorgeſtellt werden koͤnnen.
§. 140. Die mit den Affecten verbundenen Vorſtel-
lungen nehmen gewoͤhnlich die Seele ganz ein, und
ſchwaͤchen das Bewußtſeyn der uͤbrigen, und wo dieſes
nicht ganz geſchieht, oder wo man andern Empfindun-
gen
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764, S. 310. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/316>, abgerufen am 16.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.