Die bisher betrachteten Arten und Quellen des Scheins würden die einzigen seyn, daferne wir in Absicht auf das Wahre und Jrrige gleichgültig blieben. So aber ist die menschliche Natur nicht beschaffen, und die Wahrheiten, wobey sich nicht Angenehmes oder Wi- driges, oder überhaupt die Begriffe des Guten und Schlechten mit einmengen, sind sehr selten. Man hat die Geometrie, und die damit verbundenen Wissenschaf- ten, als solche angesehen, weil wir darinn die Sachen nehmen, wie sie sind, und weil die geometrischen Wahr- heiten mit den Begriffen des Glückes und Unglückes, der Furche und Hoffnung, etc. keine unmittelbare Ver- bindung haben. Jndessen kann man doch nicht in Ab- rede seyn, daß sich nicht öfters Ruhmbegierde und an- dere Leidenschaften mit einmengen, und wie es bey so vielen gefehlten Quadraturen des Circuls geschehen, Uebereilung und fehlerhafte Schlüsse veranlassen, die man bey ruhigerm Gemüthe gar leicht würde haben entdecken und vermeiden können. Jn Ansehung jeder andern Wahrheiten, die uns näher angehen, oder wobey sich Lust und Unlust, Furcht und Hoffnung mit einmengen, bleiben wir lange nicht so gelassen, daß es uns gleichgültig wäre, ob sie wahr oder nicht wahr sind, und die Fälle, wo man das Wahre nach dem Vortheil schätzt, und nur glaubt, weil man wünscht, oder nicht glaubt, weil man fürchtet oder verabscheut, sind gar nicht selten. Man weiß, auf wie vielerley Arten Reli- gion und Sittenlehre theils ganz, theils stückweise, ge- glaubt, verworfen, nach den Trieben des Herzens umge-
ändert,
IV. Hauptſtuͤck.
Viertes Hauptſtuͤck. Von dem moraliſchen Schein.
§. 127.
Die bisher betrachteten Arten und Quellen des Scheins wuͤrden die einzigen ſeyn, daferne wir in Abſicht auf das Wahre und Jrrige gleichguͤltig blieben. So aber iſt die menſchliche Natur nicht beſchaffen, und die Wahrheiten, wobey ſich nicht Angenehmes oder Wi- driges, oder uͤberhaupt die Begriffe des Guten und Schlechten mit einmengen, ſind ſehr ſelten. Man hat die Geometrie, und die damit verbundenen Wiſſenſchaf- ten, als ſolche angeſehen, weil wir darinn die Sachen nehmen, wie ſie ſind, und weil die geometriſchen Wahr- heiten mit den Begriffen des Gluͤckes und Ungluͤckes, der Furche und Hoffnung, ꝛc. keine unmittelbare Ver- bindung haben. Jndeſſen kann man doch nicht in Ab- rede ſeyn, daß ſich nicht oͤfters Ruhmbegierde und an- dere Leidenſchaften mit einmengen, und wie es bey ſo vielen gefehlten Quadraturen des Circuls geſchehen, Uebereilung und fehlerhafte Schluͤſſe veranlaſſen, die man bey ruhigerm Gemuͤthe gar leicht wuͤrde haben entdecken und vermeiden koͤnnen. Jn Anſehung jeder andern Wahrheiten, die uns naͤher angehen, oder wobey ſich Luſt und Unluſt, Furcht und Hoffnung mit einmengen, bleiben wir lange nicht ſo gelaſſen, daß es uns gleichguͤltig waͤre, ob ſie wahr oder nicht wahr ſind, und die Faͤlle, wo man das Wahre nach dem Vortheil ſchaͤtzt, und nur glaubt, weil man wuͤnſcht, oder nicht glaubt, weil man fuͤrchtet oder verabſcheut, ſind gar nicht ſelten. Man weiß, auf wie vielerley Arten Reli- gion und Sittenlehre theils ganz, theils ſtuͤckweiſe, ge- glaubt, verworfen, nach den Trieben des Herzens umge-
aͤndert,
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IV. Hauptſtuͤck.
Viertes Hauptſtuͤck.
Von dem moraliſchen Schein.
§. 127.
Die bisher betrachteten Arten und Quellen des
Scheins wuͤrden die einzigen ſeyn, daferne wir in
Abſicht auf das Wahre und Jrrige gleichguͤltig blieben.
So aber iſt die menſchliche Natur nicht beſchaffen, und
die Wahrheiten, wobey ſich nicht Angenehmes oder Wi-
driges, oder uͤberhaupt die Begriffe des Guten und
Schlechten mit einmengen, ſind ſehr ſelten. Man hat
die Geometrie, und die damit verbundenen Wiſſenſchaf-
ten, als ſolche angeſehen, weil wir darinn die Sachen
nehmen, wie ſie ſind, und weil die geometriſchen Wahr-
heiten mit den Begriffen des Gluͤckes und Ungluͤckes,
der Furche und Hoffnung, ꝛc. keine unmittelbare Ver-
bindung haben. Jndeſſen kann man doch nicht in Ab-
rede ſeyn, daß ſich nicht oͤfters Ruhmbegierde und an-
dere Leidenſchaften mit einmengen, und wie es bey ſo
vielen gefehlten Quadraturen des Circuls geſchehen,
Uebereilung und fehlerhafte Schluͤſſe veranlaſſen, die
man bey ruhigerm Gemuͤthe gar leicht wuͤrde haben
entdecken und vermeiden koͤnnen. Jn Anſehung jeder
andern Wahrheiten, die uns naͤher angehen, oder
wobey ſich Luſt und Unluſt, Furcht und Hoffnung mit
einmengen, bleiben wir lange nicht ſo gelaſſen, daß es
uns gleichguͤltig waͤre, ob ſie wahr oder nicht wahr ſind,
und die Faͤlle, wo man das Wahre nach dem Vortheil
ſchaͤtzt, und nur glaubt, weil man wuͤnſcht, oder nicht
glaubt, weil man fuͤrchtet oder verabſcheut, ſind gar
nicht ſelten. Man weiß, auf wie vielerley Arten Reli-
gion und Sittenlehre theils ganz, theils ſtuͤckweiſe, ge-
glaubt, verworfen, nach den Trieben des Herzens umge-
aͤndert,
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Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764, S. 300. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/306>, abgerufen am 23.11.2024.
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