Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764.

Bild:
<< vorherige Seite

III. Hauptstück.
Diese ist öfters aus mehrern kleinern zusammengesetzt,
deren jede entweder einzelne Theile oder einzelne Ver-
hältnisse
zu andern Sachen vorstellt. Der Mangel
des Bewußtseyns der übrigen Theile und Verhältnisse
wird von uns nicht immer empfunden, und dieses macht,
daß wir die Eigenschaften, Einrichtungen und Verän-
derungen anderer Dinge, die damit verflochten sind,
nicht genau noch vollständig beurtheilen können, beson-
ders wo die wirkenden Ursachen und Triebfedern ver-
steckt sind, oder wie es bey Jntriguen geschieht, ver-
steckt werden, so daß man, wenn man Gründe hat, sich
mit dem äußern Schein nicht zu begnügen, öfters Mü-
he findet, ganz hinter die Sache zu kommen, das
Jnnere davon zu entdecken, zu finden, was die
Sache an sich ist
etc.

§. 115. Die erstgegebene Erklärung der Seiten ei-
ner Sache, ist von der Sache selbst hergenommen, und
folglich objectiv. Hingegen liegt der Grund, warum
wir uns nicht mehr oder minder davon vorstellen, größ-
tentheils in uns selbst. Es kömmt auf den Grad der
Aufmerksamkeit, der Scharfsinnigkeit und des
Witzes, und auf den Vorrath von allgemeinen
Sätzen
an, die wir zur Entwicklung der Sache an-
wenden müssen, um die bemerkten Theile mit einander
zu vergleichen, ihre Verbindung und Zusammenhang
zu entdecken, und die Lücken auszufüllen. Dieses, nebst
den Umständen und Anläßen, die man vor sich findet,
die Sache näher zu betrachten, macht den psychologi-
schen Theil des Gesichtspunkts aus, aus welchem
sich uns die Sache vorstellt. Nimmt man noch den
Zustand und die Fertigkeit der Sinnen, des Leibes und
des Gemüths dazu, so läßt sichs bestimmen, wie viel
oder wie wenig ein Mensch von einer vorgegebenen Sa-
che übersehen kann, weil man auf diese Art den Ge-
sichtspunkt
desselben, und seine Lage gegen die Sache

voll-

III. Hauptſtuͤck.
Dieſe iſt oͤfters aus mehrern kleinern zuſammengeſetzt,
deren jede entweder einzelne Theile oder einzelne Ver-
haͤltniſſe
zu andern Sachen vorſtellt. Der Mangel
des Bewußtſeyns der uͤbrigen Theile und Verhaͤltniſſe
wird von uns nicht immer empfunden, und dieſes macht,
daß wir die Eigenſchaften, Einrichtungen und Veraͤn-
derungen anderer Dinge, die damit verflochten ſind,
nicht genau noch vollſtaͤndig beurtheilen koͤnnen, beſon-
ders wo die wirkenden Urſachen und Triebfedern ver-
ſteckt ſind, oder wie es bey Jntriguen geſchieht, ver-
ſteckt werden, ſo daß man, wenn man Gruͤnde hat, ſich
mit dem aͤußern Schein nicht zu begnuͤgen, oͤfters Muͤ-
he findet, ganz hinter die Sache zu kommen, das
Jnnere davon zu entdecken, zu finden, was die
Sache an ſich iſt
ꝛc.

§. 115. Die erſtgegebene Erklaͤrung der Seiten ei-
ner Sache, iſt von der Sache ſelbſt hergenommen, und
folglich objectiv. Hingegen liegt der Grund, warum
wir uns nicht mehr oder minder davon vorſtellen, groͤß-
tentheils in uns ſelbſt. Es koͤmmt auf den Grad der
Aufmerkſamkeit, der Scharfſinnigkeit und des
Witzes, und auf den Vorrath von allgemeinen
Saͤtzen
an, die wir zur Entwicklung der Sache an-
wenden muͤſſen, um die bemerkten Theile mit einander
zu vergleichen, ihre Verbindung und Zuſammenhang
zu entdecken, und die Luͤcken auszufuͤllen. Dieſes, nebſt
den Umſtaͤnden und Anlaͤßen, die man vor ſich findet,
die Sache naͤher zu betrachten, macht den pſychologi-
ſchen Theil des Geſichtspunkts aus, aus welchem
ſich uns die Sache vorſtellt. Nimmt man noch den
Zuſtand und die Fertigkeit der Sinnen, des Leibes und
des Gemuͤths dazu, ſo laͤßt ſichs beſtimmen, wie viel
oder wie wenig ein Menſch von einer vorgegebenen Sa-
che uͤberſehen kann, weil man auf dieſe Art den Ge-
ſichtspunkt
deſſelben, und ſeine Lage gegen die Sache

voll-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0296" n="290"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">III.</hi> Haupt&#x017F;tu&#x0364;ck.</hi></fw><lb/>
Die&#x017F;e i&#x017F;t o&#x0364;fters aus mehrern kleinern zu&#x017F;ammenge&#x017F;etzt,<lb/>
deren jede entweder einzelne <hi rendition="#fr">Theile</hi> oder einzelne <hi rendition="#fr">Ver-<lb/>
ha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e</hi> zu andern Sachen vor&#x017F;tellt. Der Mangel<lb/>
des Bewußt&#x017F;eyns der u&#x0364;brigen Theile und Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e<lb/>
wird von uns nicht immer empfunden, und die&#x017F;es macht,<lb/>
daß wir die Eigen&#x017F;chaften, Einrichtungen und Vera&#x0364;n-<lb/>
derungen anderer Dinge, die damit verflochten &#x017F;ind,<lb/>
nicht genau noch voll&#x017F;ta&#x0364;ndig beurtheilen ko&#x0364;nnen, be&#x017F;on-<lb/>
ders wo die wirkenden Ur&#x017F;achen und Triebfedern ver-<lb/>
&#x017F;teckt &#x017F;ind, oder wie es bey Jntriguen ge&#x017F;chieht, ver-<lb/>
&#x017F;teckt werden, &#x017F;o daß man, wenn man Gru&#x0364;nde hat, &#x017F;ich<lb/>
mit dem a&#x0364;ußern Schein nicht zu begnu&#x0364;gen, o&#x0364;fters Mu&#x0364;-<lb/>
he findet, ganz <hi rendition="#fr">hinter die Sache zu kommen, das<lb/>
Jnnere davon zu entdecken, zu finden, was die<lb/>
Sache an &#x017F;ich i&#x017F;t</hi> &#xA75B;c.</p><lb/>
          <p>§. 115. Die er&#x017F;tgegebene Erkla&#x0364;rung der Seiten ei-<lb/>
ner Sache, i&#x017F;t von der Sache &#x017F;elb&#x017F;t hergenommen, und<lb/>
folglich objectiv. Hingegen liegt der Grund, warum<lb/>
wir uns nicht mehr oder minder davon vor&#x017F;tellen, gro&#x0364;ß-<lb/>
tentheils in uns &#x017F;elb&#x017F;t. Es ko&#x0364;mmt auf den Grad der<lb/><hi rendition="#fr">Aufmerk&#x017F;amkeit,</hi> der <hi rendition="#fr">Scharf&#x017F;innigkeit</hi> und des<lb/><hi rendition="#fr">Witzes,</hi> und auf den <hi rendition="#fr">Vorrath von allgemeinen<lb/>
Sa&#x0364;tzen</hi> an, die wir zur Entwicklung der Sache an-<lb/>
wenden mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en, um die bemerkten Theile mit einander<lb/>
zu vergleichen, ihre Verbindung und Zu&#x017F;ammenhang<lb/>
zu entdecken, und die Lu&#x0364;cken auszufu&#x0364;llen. Die&#x017F;es, neb&#x017F;t<lb/>
den Um&#x017F;ta&#x0364;nden und Anla&#x0364;ßen, die man vor &#x017F;ich findet,<lb/>
die Sache na&#x0364;her zu betrachten, macht den p&#x017F;ychologi-<lb/>
&#x017F;chen Theil des <hi rendition="#fr">Ge&#x017F;ichtspunkts</hi> aus, aus welchem<lb/>
&#x017F;ich uns die Sache vor&#x017F;tellt. Nimmt man noch den<lb/>
Zu&#x017F;tand und die Fertigkeit der Sinnen, des Leibes und<lb/>
des Gemu&#x0364;ths dazu, &#x017F;o la&#x0364;ßt &#x017F;ichs be&#x017F;timmen, wie viel<lb/>
oder wie wenig ein Men&#x017F;ch von einer vorgegebenen Sa-<lb/>
che u&#x0364;ber&#x017F;ehen kann, weil man auf die&#x017F;e Art den <hi rendition="#fr">Ge-<lb/>
&#x017F;ichtspunkt</hi> de&#x017F;&#x017F;elben, und &#x017F;eine <hi rendition="#fr">Lage</hi> gegen die Sache<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">voll-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[290/0296] III. Hauptſtuͤck. Dieſe iſt oͤfters aus mehrern kleinern zuſammengeſetzt, deren jede entweder einzelne Theile oder einzelne Ver- haͤltniſſe zu andern Sachen vorſtellt. Der Mangel des Bewußtſeyns der uͤbrigen Theile und Verhaͤltniſſe wird von uns nicht immer empfunden, und dieſes macht, daß wir die Eigenſchaften, Einrichtungen und Veraͤn- derungen anderer Dinge, die damit verflochten ſind, nicht genau noch vollſtaͤndig beurtheilen koͤnnen, beſon- ders wo die wirkenden Urſachen und Triebfedern ver- ſteckt ſind, oder wie es bey Jntriguen geſchieht, ver- ſteckt werden, ſo daß man, wenn man Gruͤnde hat, ſich mit dem aͤußern Schein nicht zu begnuͤgen, oͤfters Muͤ- he findet, ganz hinter die Sache zu kommen, das Jnnere davon zu entdecken, zu finden, was die Sache an ſich iſt ꝛc. §. 115. Die erſtgegebene Erklaͤrung der Seiten ei- ner Sache, iſt von der Sache ſelbſt hergenommen, und folglich objectiv. Hingegen liegt der Grund, warum wir uns nicht mehr oder minder davon vorſtellen, groͤß- tentheils in uns ſelbſt. Es koͤmmt auf den Grad der Aufmerkſamkeit, der Scharfſinnigkeit und des Witzes, und auf den Vorrath von allgemeinen Saͤtzen an, die wir zur Entwicklung der Sache an- wenden muͤſſen, um die bemerkten Theile mit einander zu vergleichen, ihre Verbindung und Zuſammenhang zu entdecken, und die Luͤcken auszufuͤllen. Dieſes, nebſt den Umſtaͤnden und Anlaͤßen, die man vor ſich findet, die Sache naͤher zu betrachten, macht den pſychologi- ſchen Theil des Geſichtspunkts aus, aus welchem ſich uns die Sache vorſtellt. Nimmt man noch den Zuſtand und die Fertigkeit der Sinnen, des Leibes und des Gemuͤths dazu, ſo laͤßt ſichs beſtimmen, wie viel oder wie wenig ein Menſch von einer vorgegebenen Sa- che uͤberſehen kann, weil man auf dieſe Art den Ge- ſichtspunkt deſſelben, und ſeine Lage gegen die Sache voll-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/296
Zitationshilfe: Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764, S. 290. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/296>, abgerufen am 23.11.2024.