nicht zusammenreimen, so ist nothwendig entweder ein Widerspruch oder eine Lücke darinn, es sey, daß wir sie zu weit ausdehnen, oder überflüßiges mit einmengen, oder Umstände und einschränkende Bedingungen aus der Acht lassen etc. Hierüber kann man das ganze neunte Hauptstück der Dianoiologie nachsehen, wo wir von der Verwandlung der gemeinen Erkenntniß und ihrer einzeln Theile in eine wissenschaftliche gehandelt haben. Denn in der gemeinen Erkenntniß ist Schein und Wahres noch ungetrennt, und beydes mit dem Jr- rigen vermengt.
§. 106. Ueberhaupt dehnt sich in dem Gedanken- reiche der bloße Schein so weit als der Jrrthum aus. Denn wer in einer Sache sich irret, dem scheint das Falsche wahr, oder das Wahre falsch zu seyn. Er stellt sich die Sache anders vor, oder bildet sie sich anders ein, als sie ist. Hingegen trifft auch nicht immer Wahres und Schein zusammen. Es giebt Wahrhei- ten, die uns der Verstand ganz anders einsehen lehrt, als die Einbildungskraft sie uns vorstellt. Die wah- ren Paradoxa oder widersinnigen Sätze sind von der Art. Sie scheinen anfangs nicht das zu seyn, was sie bey reiferer Ueberlegung wirklich sind. So giebt es auch öfters Dinge, die uns nur deswegen unglaublich oder unmöglich vorkommen, weil wir sie uns ganz an- ders vorgestellt hatten.
§. 107. Der Gebrauch der allgemeinen und abstra- cten Begriffe besteht darinn, daß wir sie und deren Theorie auf einzelne oder besondere Fälle anwenden können. Denn was wir überhaupt von einer ganzen Art, Gattung, Classe etc. wissen, dürfen wir nicht in je- dem Falle besonders wieder aufsuchen, oder es auf die Erfahrung ankommen lassen. Die Hauptfrage hiebey ist nun, ob ein vorgegebener allgemeiner Begriff in ei- nem vorgegebenen besondern Falle vollständig vorkom-
me?
III. Hauptſtuͤck.
nicht zuſammenreimen, ſo iſt nothwendig entweder ein Widerſpruch oder eine Luͤcke darinn, es ſey, daß wir ſie zu weit ausdehnen, oder uͤberfluͤßiges mit einmengen, oder Umſtaͤnde und einſchraͤnkende Bedingungen aus der Acht laſſen ꝛc. Hieruͤber kann man das ganze neunte Hauptſtuͤck der Dianoiologie nachſehen, wo wir von der Verwandlung der gemeinen Erkenntniß und ihrer einzeln Theile in eine wiſſenſchaftliche gehandelt haben. Denn in der gemeinen Erkenntniß iſt Schein und Wahres noch ungetrennt, und beydes mit dem Jr- rigen vermengt.
§. 106. Ueberhaupt dehnt ſich in dem Gedanken- reiche der bloße Schein ſo weit als der Jrrthum aus. Denn wer in einer Sache ſich irret, dem ſcheint das Falſche wahr, oder das Wahre falſch zu ſeyn. Er ſtellt ſich die Sache anders vor, oder bildet ſie ſich anders ein, als ſie iſt. Hingegen trifft auch nicht immer Wahres und Schein zuſammen. Es giebt Wahrhei- ten, die uns der Verſtand ganz anders einſehen lehrt, als die Einbildungskraft ſie uns vorſtellt. Die wah- ren Paradoxa oder widerſinnigen Saͤtze ſind von der Art. Sie ſcheinen anfangs nicht das zu ſeyn, was ſie bey reiferer Ueberlegung wirklich ſind. So giebt es auch oͤfters Dinge, die uns nur deswegen unglaublich oder unmoͤglich vorkommen, weil wir ſie uns ganz an- ders vorgeſtellt hatten.
§. 107. Der Gebrauch der allgemeinen und abſtra- cten Begriffe beſteht darinn, daß wir ſie und deren Theorie auf einzelne oder beſondere Faͤlle anwenden koͤnnen. Denn was wir uͤberhaupt von einer ganzen Art, Gattung, Claſſe ꝛc. wiſſen, duͤrfen wir nicht in je- dem Falle beſonders wieder aufſuchen, oder es auf die Erfahrung ankommen laſſen. Die Hauptfrage hiebey iſt nun, ob ein vorgegebener allgemeiner Begriff in ei- nem vorgegebenen beſondern Falle vollſtaͤndig vorkom-
me?
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0290"n="284"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b"><hirendition="#aq">III.</hi> Hauptſtuͤck.</hi></fw><lb/>
nicht <hirendition="#fr">zuſammenreimen,</hi>ſo iſt nothwendig entweder<lb/>
ein Widerſpruch oder eine Luͤcke darinn, es ſey, daß wir<lb/>ſie zu weit ausdehnen, oder uͤberfluͤßiges mit einmengen,<lb/>
oder Umſtaͤnde und einſchraͤnkende Bedingungen aus<lb/>
der Acht laſſen ꝛc. Hieruͤber kann man das ganze<lb/>
neunte Hauptſtuͤck der Dianoiologie nachſehen, wo wir<lb/>
von der Verwandlung der gemeinen Erkenntniß und<lb/>
ihrer einzeln Theile in eine wiſſenſchaftliche gehandelt<lb/>
haben. Denn in der gemeinen Erkenntniß iſt Schein<lb/>
und Wahres noch ungetrennt, und beydes mit dem Jr-<lb/>
rigen vermengt.</p><lb/><p>§. 106. Ueberhaupt dehnt ſich in dem Gedanken-<lb/>
reiche der bloße Schein ſo weit als der Jrrthum aus.<lb/>
Denn wer in einer Sache ſich irret, dem ſcheint das<lb/>
Falſche wahr, oder das Wahre falſch zu ſeyn. Er <hirendition="#fr">ſtellt</hi><lb/>ſich die Sache anders <hirendition="#fr">vor,</hi> oder <hirendition="#fr">bildet</hi>ſie ſich anders<lb/><hirendition="#fr">ein,</hi> als ſie iſt. Hingegen trifft auch nicht immer<lb/>
Wahres und Schein zuſammen. Es giebt Wahrhei-<lb/>
ten, die uns der Verſtand ganz anders einſehen lehrt,<lb/>
als die Einbildungskraft ſie uns vorſtellt. Die wah-<lb/>
ren <hirendition="#aq"><hirendition="#i">Paradoxa</hi></hi> oder <hirendition="#fr">widerſinnigen Saͤtze</hi>ſind von der<lb/>
Art. Sie ſcheinen anfangs nicht das zu ſeyn, was ſie<lb/>
bey reiferer Ueberlegung wirklich ſind. So giebt es<lb/>
auch oͤfters Dinge, die uns nur deswegen unglaublich<lb/>
oder unmoͤglich vorkommen, weil wir ſie uns ganz an-<lb/>
ders vorgeſtellt hatten.</p><lb/><p>§. 107. Der Gebrauch der allgemeinen und abſtra-<lb/>
cten Begriffe beſteht darinn, daß wir ſie und deren<lb/>
Theorie auf einzelne oder beſondere Faͤlle anwenden<lb/>
koͤnnen. Denn was wir uͤberhaupt von einer ganzen<lb/>
Art, Gattung, Claſſe ꝛc. wiſſen, duͤrfen wir nicht in je-<lb/>
dem Falle beſonders wieder aufſuchen, oder es auf die<lb/>
Erfahrung ankommen laſſen. Die Hauptfrage hiebey<lb/>
iſt nun, ob ein vorgegebener allgemeiner Begriff in ei-<lb/>
nem vorgegebenen beſondern Falle vollſtaͤndig vorkom-<lb/><fwplace="bottom"type="catch">me?</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[284/0290]
III. Hauptſtuͤck.
nicht zuſammenreimen, ſo iſt nothwendig entweder
ein Widerſpruch oder eine Luͤcke darinn, es ſey, daß wir
ſie zu weit ausdehnen, oder uͤberfluͤßiges mit einmengen,
oder Umſtaͤnde und einſchraͤnkende Bedingungen aus
der Acht laſſen ꝛc. Hieruͤber kann man das ganze
neunte Hauptſtuͤck der Dianoiologie nachſehen, wo wir
von der Verwandlung der gemeinen Erkenntniß und
ihrer einzeln Theile in eine wiſſenſchaftliche gehandelt
haben. Denn in der gemeinen Erkenntniß iſt Schein
und Wahres noch ungetrennt, und beydes mit dem Jr-
rigen vermengt.
§. 106. Ueberhaupt dehnt ſich in dem Gedanken-
reiche der bloße Schein ſo weit als der Jrrthum aus.
Denn wer in einer Sache ſich irret, dem ſcheint das
Falſche wahr, oder das Wahre falſch zu ſeyn. Er ſtellt
ſich die Sache anders vor, oder bildet ſie ſich anders
ein, als ſie iſt. Hingegen trifft auch nicht immer
Wahres und Schein zuſammen. Es giebt Wahrhei-
ten, die uns der Verſtand ganz anders einſehen lehrt,
als die Einbildungskraft ſie uns vorſtellt. Die wah-
ren Paradoxa oder widerſinnigen Saͤtze ſind von der
Art. Sie ſcheinen anfangs nicht das zu ſeyn, was ſie
bey reiferer Ueberlegung wirklich ſind. So giebt es
auch oͤfters Dinge, die uns nur deswegen unglaublich
oder unmoͤglich vorkommen, weil wir ſie uns ganz an-
ders vorgeſtellt hatten.
§. 107. Der Gebrauch der allgemeinen und abſtra-
cten Begriffe beſteht darinn, daß wir ſie und deren
Theorie auf einzelne oder beſondere Faͤlle anwenden
koͤnnen. Denn was wir uͤberhaupt von einer ganzen
Art, Gattung, Claſſe ꝛc. wiſſen, duͤrfen wir nicht in je-
dem Falle beſonders wieder aufſuchen, oder es auf die
Erfahrung ankommen laſſen. Die Hauptfrage hiebey
iſt nun, ob ein vorgegebener allgemeiner Begriff in ei-
nem vorgegebenen beſondern Falle vollſtaͤndig vorkom-
me?
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764, S. 284. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/290>, abgerufen am 16.06.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.