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Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764.

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III. Hauptstück.
nicht zusammenreimen, so ist nothwendig entweder
ein Widerspruch oder eine Lücke darinn, es sey, daß wir
sie zu weit ausdehnen, oder überflüßiges mit einmengen,
oder Umstände und einschränkende Bedingungen aus
der Acht lassen etc. Hierüber kann man das ganze
neunte Hauptstück der Dianoiologie nachsehen, wo wir
von der Verwandlung der gemeinen Erkenntniß und
ihrer einzeln Theile in eine wissenschaftliche gehandelt
haben. Denn in der gemeinen Erkenntniß ist Schein
und Wahres noch ungetrennt, und beydes mit dem Jr-
rigen vermengt.

§. 106. Ueberhaupt dehnt sich in dem Gedanken-
reiche der bloße Schein so weit als der Jrrthum aus.
Denn wer in einer Sache sich irret, dem scheint das
Falsche wahr, oder das Wahre falsch zu seyn. Er stellt
sich die Sache anders vor, oder bildet sie sich anders
ein, als sie ist. Hingegen trifft auch nicht immer
Wahres und Schein zusammen. Es giebt Wahrhei-
ten, die uns der Verstand ganz anders einsehen lehrt,
als die Einbildungskraft sie uns vorstellt. Die wah-
ren Paradoxa oder widersinnigen Sätze sind von der
Art. Sie scheinen anfangs nicht das zu seyn, was sie
bey reiferer Ueberlegung wirklich sind. So giebt es
auch öfters Dinge, die uns nur deswegen unglaublich
oder unmöglich vorkommen, weil wir sie uns ganz an-
ders vorgestellt hatten.

§. 107. Der Gebrauch der allgemeinen und abstra-
cten Begriffe besteht darinn, daß wir sie und deren
Theorie auf einzelne oder besondere Fälle anwenden
können. Denn was wir überhaupt von einer ganzen
Art, Gattung, Classe etc. wissen, dürfen wir nicht in je-
dem Falle besonders wieder aufsuchen, oder es auf die
Erfahrung ankommen lassen. Die Hauptfrage hiebey
ist nun, ob ein vorgegebener allgemeiner Begriff in ei-
nem vorgegebenen besondern Falle vollständig vorkom-

me?

III. Hauptſtuͤck.
nicht zuſammenreimen, ſo iſt nothwendig entweder
ein Widerſpruch oder eine Luͤcke darinn, es ſey, daß wir
ſie zu weit ausdehnen, oder uͤberfluͤßiges mit einmengen,
oder Umſtaͤnde und einſchraͤnkende Bedingungen aus
der Acht laſſen ꝛc. Hieruͤber kann man das ganze
neunte Hauptſtuͤck der Dianoiologie nachſehen, wo wir
von der Verwandlung der gemeinen Erkenntniß und
ihrer einzeln Theile in eine wiſſenſchaftliche gehandelt
haben. Denn in der gemeinen Erkenntniß iſt Schein
und Wahres noch ungetrennt, und beydes mit dem Jr-
rigen vermengt.

§. 106. Ueberhaupt dehnt ſich in dem Gedanken-
reiche der bloße Schein ſo weit als der Jrrthum aus.
Denn wer in einer Sache ſich irret, dem ſcheint das
Falſche wahr, oder das Wahre falſch zu ſeyn. Er ſtellt
ſich die Sache anders vor, oder bildet ſie ſich anders
ein, als ſie iſt. Hingegen trifft auch nicht immer
Wahres und Schein zuſammen. Es giebt Wahrhei-
ten, die uns der Verſtand ganz anders einſehen lehrt,
als die Einbildungskraft ſie uns vorſtellt. Die wah-
ren Paradoxa oder widerſinnigen Saͤtze ſind von der
Art. Sie ſcheinen anfangs nicht das zu ſeyn, was ſie
bey reiferer Ueberlegung wirklich ſind. So giebt es
auch oͤfters Dinge, die uns nur deswegen unglaublich
oder unmoͤglich vorkommen, weil wir ſie uns ganz an-
ders vorgeſtellt hatten.

§. 107. Der Gebrauch der allgemeinen und abſtra-
cten Begriffe beſteht darinn, daß wir ſie und deren
Theorie auf einzelne oder beſondere Faͤlle anwenden
koͤnnen. Denn was wir uͤberhaupt von einer ganzen
Art, Gattung, Claſſe ꝛc. wiſſen, duͤrfen wir nicht in je-
dem Falle beſonders wieder aufſuchen, oder es auf die
Erfahrung ankommen laſſen. Die Hauptfrage hiebey
iſt nun, ob ein vorgegebener allgemeiner Begriff in ei-
nem vorgegebenen beſondern Falle vollſtaͤndig vorkom-

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[284/0290] III. Hauptſtuͤck. nicht zuſammenreimen, ſo iſt nothwendig entweder ein Widerſpruch oder eine Luͤcke darinn, es ſey, daß wir ſie zu weit ausdehnen, oder uͤberfluͤßiges mit einmengen, oder Umſtaͤnde und einſchraͤnkende Bedingungen aus der Acht laſſen ꝛc. Hieruͤber kann man das ganze neunte Hauptſtuͤck der Dianoiologie nachſehen, wo wir von der Verwandlung der gemeinen Erkenntniß und ihrer einzeln Theile in eine wiſſenſchaftliche gehandelt haben. Denn in der gemeinen Erkenntniß iſt Schein und Wahres noch ungetrennt, und beydes mit dem Jr- rigen vermengt. §. 106. Ueberhaupt dehnt ſich in dem Gedanken- reiche der bloße Schein ſo weit als der Jrrthum aus. Denn wer in einer Sache ſich irret, dem ſcheint das Falſche wahr, oder das Wahre falſch zu ſeyn. Er ſtellt ſich die Sache anders vor, oder bildet ſie ſich anders ein, als ſie iſt. Hingegen trifft auch nicht immer Wahres und Schein zuſammen. Es giebt Wahrhei- ten, die uns der Verſtand ganz anders einſehen lehrt, als die Einbildungskraft ſie uns vorſtellt. Die wah- ren Paradoxa oder widerſinnigen Saͤtze ſind von der Art. Sie ſcheinen anfangs nicht das zu ſeyn, was ſie bey reiferer Ueberlegung wirklich ſind. So giebt es auch oͤfters Dinge, die uns nur deswegen unglaublich oder unmoͤglich vorkommen, weil wir ſie uns ganz an- ders vorgeſtellt hatten. §. 107. Der Gebrauch der allgemeinen und abſtra- cten Begriffe beſteht darinn, daß wir ſie und deren Theorie auf einzelne oder beſondere Faͤlle anwenden koͤnnen. Denn was wir uͤberhaupt von einer ganzen Art, Gattung, Claſſe ꝛc. wiſſen, duͤrfen wir nicht in je- dem Falle beſonders wieder aufſuchen, oder es auf die Erfahrung ankommen laſſen. Die Hauptfrage hiebey iſt nun, ob ein vorgegebener allgemeiner Begriff in ei- nem vorgegebenen beſondern Falle vollſtaͤndig vorkom- me?

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Zitationshilfe: Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764, S. 284. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/290>, abgerufen am 23.11.2024.