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Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764.

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Von dem sinnlichen Schein.
die in der wirklichen Welt ausgefüllt wären, geschehene
Dinge, die nicht geschehen sind, oder anders geschehen
wären etc. Und auch dieses macht die Träume als Träu-
me erkennen, die wirklich erfüllt sind. So kann man
z. E. träumen, man höre einen Schuß, wenn in der
That keiner geschieht, oder man sehe ein Feuer, wenn
in der That Feuer ausbricht und das Zimmer helle
macht etc. Allein der Traum setzt die Geschichte ganz
anders fort, als sie in der Natur vorgeht, oder als man
sie wachend würde erfahren haben. Sieht man hinge-
gen wachend unmöglichscheinende und unerwartete Din-
ge, z. E. einen Menschen, den man schon längst todt
geglaubt hatte, so ist man im Zweifel, ob man sich irre,
oder träume? Allein auch in sochen Fällen muß das
Aufklären des Zusammenhanges jeder Umstände bewei-
sen, daß das Gesehene oder Empsundene ein Stück der
wirklichen Welt sey. Man fragt der Veranlassung
nach, warum man anders geglaubt hatte, und findet
Jrrung und Lücken darinn, hingegen Ordnung und Zu-
sammenhang in dem, was nun die Sinnen zeigen. Jo-
seph würde dem Jacob, wenn er ihn unversehens be-
sucht hätte, seine Geschichte und den Betrug seiner
Brüder erzählt, und ihr Geständniß durch jede kleine
Umstände abgezwungen haben.

§. 38. Was wir hier vom Traume angemerkt ha-
ben, gilt auch vom Deliriren für den, der sich darinn
befindet. Er redet und handelt, wie wenn er in einer
andern Welt wäre, und den Umstehenden fällt es leicht
in die Augen, daß der Zusammenhang in den Hand-
lungen und Reden mit der Vernunft anfange zu fehlen.
Das Verdrehen der Augen und andere Gebärden, die
Kunst und List nicht leicht nachahmt, geben ebenfalls
den kranken Zustand der Sinnen und des Gemüths zu
erkennen. Jndessen muß man zuweilen auf alle diese
Kennzeichen Acht haben, wenn man sich versichern will,

ob

Von dem ſinnlichen Schein.
die in der wirklichen Welt ausgefuͤllt waͤren, geſchehene
Dinge, die nicht geſchehen ſind, oder anders geſchehen
waͤren ꝛc. Und auch dieſes macht die Traͤume als Traͤu-
me erkennen, die wirklich erfuͤllt ſind. So kann man
z. E. traͤumen, man hoͤre einen Schuß, wenn in der
That keiner geſchieht, oder man ſehe ein Feuer, wenn
in der That Feuer ausbricht und das Zimmer helle
macht ꝛc. Allein der Traum ſetzt die Geſchichte ganz
anders fort, als ſie in der Natur vorgeht, oder als man
ſie wachend wuͤrde erfahren haben. Sieht man hinge-
gen wachend unmoͤglichſcheinende und unerwartete Din-
ge, z. E. einen Menſchen, den man ſchon laͤngſt todt
geglaubt hatte, ſo iſt man im Zweifel, ob man ſich irre,
oder traͤume? Allein auch in ſochen Faͤllen muß das
Aufklaͤren des Zuſammenhanges jeder Umſtaͤnde bewei-
ſen, daß das Geſehene oder Empſundene ein Stuͤck der
wirklichen Welt ſey. Man fragt der Veranlaſſung
nach, warum man anders geglaubt hatte, und findet
Jrrung und Luͤcken darinn, hingegen Ordnung und Zu-
ſammenhang in dem, was nun die Sinnen zeigen. Jo-
ſeph wuͤrde dem Jacob, wenn er ihn unverſehens be-
ſucht haͤtte, ſeine Geſchichte und den Betrug ſeiner
Bruͤder erzaͤhlt, und ihr Geſtaͤndniß durch jede kleine
Umſtaͤnde abgezwungen haben.

§. 38. Was wir hier vom Traume angemerkt ha-
ben, gilt auch vom Deliriren fuͤr den, der ſich darinn
befindet. Er redet und handelt, wie wenn er in einer
andern Welt waͤre, und den Umſtehenden faͤllt es leicht
in die Augen, daß der Zuſammenhang in den Hand-
lungen und Reden mit der Vernunft anfange zu fehlen.
Das Verdrehen der Augen und andere Gebaͤrden, die
Kunſt und Liſt nicht leicht nachahmt, geben ebenfalls
den kranken Zuſtand der Sinnen und des Gemuͤths zu
erkennen. Jndeſſen muß man zuweilen auf alle dieſe
Kennzeichen Acht haben, wenn man ſich verſichern will,

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[239/0245] Von dem ſinnlichen Schein. die in der wirklichen Welt ausgefuͤllt waͤren, geſchehene Dinge, die nicht geſchehen ſind, oder anders geſchehen waͤren ꝛc. Und auch dieſes macht die Traͤume als Traͤu- me erkennen, die wirklich erfuͤllt ſind. So kann man z. E. traͤumen, man hoͤre einen Schuß, wenn in der That keiner geſchieht, oder man ſehe ein Feuer, wenn in der That Feuer ausbricht und das Zimmer helle macht ꝛc. Allein der Traum ſetzt die Geſchichte ganz anders fort, als ſie in der Natur vorgeht, oder als man ſie wachend wuͤrde erfahren haben. Sieht man hinge- gen wachend unmoͤglichſcheinende und unerwartete Din- ge, z. E. einen Menſchen, den man ſchon laͤngſt todt geglaubt hatte, ſo iſt man im Zweifel, ob man ſich irre, oder traͤume? Allein auch in ſochen Faͤllen muß das Aufklaͤren des Zuſammenhanges jeder Umſtaͤnde bewei- ſen, daß das Geſehene oder Empſundene ein Stuͤck der wirklichen Welt ſey. Man fragt der Veranlaſſung nach, warum man anders geglaubt hatte, und findet Jrrung und Luͤcken darinn, hingegen Ordnung und Zu- ſammenhang in dem, was nun die Sinnen zeigen. Jo- ſeph wuͤrde dem Jacob, wenn er ihn unverſehens be- ſucht haͤtte, ſeine Geſchichte und den Betrug ſeiner Bruͤder erzaͤhlt, und ihr Geſtaͤndniß durch jede kleine Umſtaͤnde abgezwungen haben. §. 38. Was wir hier vom Traume angemerkt ha- ben, gilt auch vom Deliriren fuͤr den, der ſich darinn befindet. Er redet und handelt, wie wenn er in einer andern Welt waͤre, und den Umſtehenden faͤllt es leicht in die Augen, daß der Zuſammenhang in den Hand- lungen und Reden mit der Vernunft anfange zu fehlen. Das Verdrehen der Augen und andere Gebaͤrden, die Kunſt und Liſt nicht leicht nachahmt, geben ebenfalls den kranken Zuſtand der Sinnen und des Gemuͤths zu erkennen. Jndeſſen muß man zuweilen auf alle dieſe Kennzeichen Acht haben, wenn man ſich verſichern will, ob

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Zitationshilfe: Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764, S. 239. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/245>, abgerufen am 27.11.2024.