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Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764.

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Von den Arten des Scheins.
zusammenhängenden Einbildung statt hat, und sehen
folglich die ganze Körperwelt schlechthin als einen blos-
sen Schein an. Wir merken hier nur beyläufig an,
daß dieser idealische Schein etwas ganz besonderes
haben müßte. Denn nimmt man die Körperwelt als
real an, so giebt sie lauter zusammenhängende Wahr-
heiten, weil keine Erfahrung der andern weder wider-
spricht noch widersprechen kann. Hingegen werden wir
im Folgenden umständlicher zeigen, daß jeder andere
Schein, als real angenommen, nicht durchaus mit sich
selbst besteht, und dadurch verräth, daß er nicht als
real angenommen werden kann, sondern das Reale,
oder was die Sache an sich ist, erst daraus geschlossen
werden muß.

§. 10. Wir haben bisher die Arten des Scheins
überhaupt angezeigt, die in Ansehung der Sinnen vor-
kommen. Es dehnt sich aber der Schein auch bis in
das Gnadenreich aus, und besonders bieten uns das
Bewußtseyn, das Gedächtniß und die Einbil-
dungskraft,
verschiedene Quellen des Scheins an,
und die Leidenschaften tragen nicht wenig dazu bey,
die Verwirrung zu vermehren, weil sie die Aufmerksam-
keit auf besondere Seiten lenken, das Bewußtseyn hem-
men oder verstärken, und die Einbildungskraft zum
Nachtheil der Vernunft und des Verstandes reger ma-
chen, als es zur genauen und richtigen Erkenntniß und
Prüfung der Wahrheit erfordert würde.

§. 11. Das Bewußtseyn kömmt bereits schon bey
den Empfindungen der äußern Sinnen vor. Einmal
findet sich in jeder Empfindung ungemein viel Mannich-
faltiges, weil sie individual, und daher durchaus be-
stimmt ist. Allein, wir sind uns dieses Mannichfalti-
gen niemals durchaus bewußt, und es bleiben in jeder
Empfindung immer unbemerkte Stücke. Daher kann
es geschehen, daß bey Wiederholung der Empfindung

uns

Von den Arten des Scheins.
zuſammenhaͤngenden Einbildung ſtatt hat, und ſehen
folglich die ganze Koͤrperwelt ſchlechthin als einen bloſ-
ſen Schein an. Wir merken hier nur beylaͤufig an,
daß dieſer idealiſche Schein etwas ganz beſonderes
haben muͤßte. Denn nimmt man die Koͤrperwelt als
real an, ſo giebt ſie lauter zuſammenhaͤngende Wahr-
heiten, weil keine Erfahrung der andern weder wider-
ſpricht noch widerſprechen kann. Hingegen werden wir
im Folgenden umſtaͤndlicher zeigen, daß jeder andere
Schein, als real angenommen, nicht durchaus mit ſich
ſelbſt beſteht, und dadurch verraͤth, daß er nicht als
real angenommen werden kann, ſondern das Reale,
oder was die Sache an ſich iſt, erſt daraus geſchloſſen
werden muß.

§. 10. Wir haben bisher die Arten des Scheins
uͤberhaupt angezeigt, die in Anſehung der Sinnen vor-
kommen. Es dehnt ſich aber der Schein auch bis in
das Gnadenreich aus, und beſonders bieten uns das
Bewußtſeyn, das Gedaͤchtniß und die Einbil-
dungskraft,
verſchiedene Quellen des Scheins an,
und die Leidenſchaften tragen nicht wenig dazu bey,
die Verwirrung zu vermehren, weil ſie die Aufmerkſam-
keit auf beſondere Seiten lenken, das Bewußtſeyn hem-
men oder verſtaͤrken, und die Einbildungskraft zum
Nachtheil der Vernunft und des Verſtandes reger ma-
chen, als es zur genauen und richtigen Erkenntniß und
Pruͤfung der Wahrheit erfordert wuͤrde.

§. 11. Das Bewußtſeyn koͤmmt bereits ſchon bey
den Empfindungen der aͤußern Sinnen vor. Einmal
findet ſich in jeder Empfindung ungemein viel Mannich-
faltiges, weil ſie individual, und daher durchaus be-
ſtimmt iſt. Allein, wir ſind uns dieſes Mannichfalti-
gen niemals durchaus bewußt, und es bleiben in jeder
Empfindung immer unbemerkte Stuͤcke. Daher kann
es geſchehen, daß bey Wiederholung der Empfindung

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[223/0229] Von den Arten des Scheins. zuſammenhaͤngenden Einbildung ſtatt hat, und ſehen folglich die ganze Koͤrperwelt ſchlechthin als einen bloſ- ſen Schein an. Wir merken hier nur beylaͤufig an, daß dieſer idealiſche Schein etwas ganz beſonderes haben muͤßte. Denn nimmt man die Koͤrperwelt als real an, ſo giebt ſie lauter zuſammenhaͤngende Wahr- heiten, weil keine Erfahrung der andern weder wider- ſpricht noch widerſprechen kann. Hingegen werden wir im Folgenden umſtaͤndlicher zeigen, daß jeder andere Schein, als real angenommen, nicht durchaus mit ſich ſelbſt beſteht, und dadurch verraͤth, daß er nicht als real angenommen werden kann, ſondern das Reale, oder was die Sache an ſich iſt, erſt daraus geſchloſſen werden muß. §. 10. Wir haben bisher die Arten des Scheins uͤberhaupt angezeigt, die in Anſehung der Sinnen vor- kommen. Es dehnt ſich aber der Schein auch bis in das Gnadenreich aus, und beſonders bieten uns das Bewußtſeyn, das Gedaͤchtniß und die Einbil- dungskraft, verſchiedene Quellen des Scheins an, und die Leidenſchaften tragen nicht wenig dazu bey, die Verwirrung zu vermehren, weil ſie die Aufmerkſam- keit auf beſondere Seiten lenken, das Bewußtſeyn hem- men oder verſtaͤrken, und die Einbildungskraft zum Nachtheil der Vernunft und des Verſtandes reger ma- chen, als es zur genauen und richtigen Erkenntniß und Pruͤfung der Wahrheit erfordert wuͤrde. §. 11. Das Bewußtſeyn koͤmmt bereits ſchon bey den Empfindungen der aͤußern Sinnen vor. Einmal findet ſich in jeder Empfindung ungemein viel Mannich- faltiges, weil ſie individual, und daher durchaus be- ſtimmt iſt. Allein, wir ſind uns dieſes Mannichfalti- gen niemals durchaus bewußt, und es bleiben in jeder Empfindung immer unbemerkte Stuͤcke. Daher kann es geſchehen, daß bey Wiederholung der Empfindung uns

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Zitationshilfe: Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764, S. 223. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/229>, abgerufen am 23.11.2024.