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Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764.

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VIII. Hauptstück.
gefähr gleichem Umfange sind. Wer es nun dabey
bewenden läßt, dem bleibt das meiste von dem, was
der fremden Sprache eigen ist, und die feinern Unter-
schiede in dem Gebrauche ihrer Wörter und Redensar-
ten, fast nothwendig unbekannt. Man hat daher schon
längst angemerkt, daß man mit wenigern grammati-
schen Regeln, aber desto mehrerer Lesung der classischen
Schriftsteller, einer fremden Sprache ungleich besser
Meister werde, als wenn man sich alle Regeln der
Sprachlehre durchaus bekannt macht, und es dabey be-
wenden läßt. Das will nun eben auch sagen, daß man
das Feinere einer fremden Sprache nicht anders, als
eben so, wie in der Muttersprache, aus dem Verstand
der Redensarten und ihrem Zusammenhange erlernen
müsse. Da findet man bey guten Schriftstellern jedes
Wort an seinem Orte, und der Umfang in seiner Be-
deutung ergiebt sich zugleich mit dem Verstande der Re-
densart, und aus der Betrachtung der dadurch vorge-
stellten Sache. Alles kömmt dabey darauf an, daß
der Autor richtig gedacht, und sich nett ausgedrückt ha-
be, und der Leser die Aufmerksamkeit und Fähigkeit be-
sitze, ihm genau zu folgen.

§. 314. Es giebt ferner auch Sätze und Redens-
arten, die, für sich allein betrachtet, widersinnisch, an-
stößig oder gar ungereimt und irrig scheinen, es sey,
daß der Autor derselben sich aus Sorglosigkeit, Nach-
läßigkeit etc. in den Ausdrücken versehen, oder daß er
eine Absicht dabey habe, oder daß er in der That keine
schicklichere Worte in der Sprache gefunden. Jm letz-
ten Fall besonders wird er natürlicher Weise entweder
den Leser vorerrinnern, oder durch beygefügte Erläute-
rungen näher anzeigen, wie er seine Worte will genom-
men wissen, und falls er es auf den Zusammenhang
ankommen läßt, so fordert allerdings die hermeneutische
Billigkeit, daß man diesen mit zu Rathe ziehe, um das

Anstößi-

VIII. Hauptſtuͤck.
gefaͤhr gleichem Umfange ſind. Wer es nun dabey
bewenden laͤßt, dem bleibt das meiſte von dem, was
der fremden Sprache eigen iſt, und die feinern Unter-
ſchiede in dem Gebrauche ihrer Woͤrter und Redensar-
ten, faſt nothwendig unbekannt. Man hat daher ſchon
laͤngſt angemerkt, daß man mit wenigern grammati-
ſchen Regeln, aber deſto mehrerer Leſung der claſſiſchen
Schriftſteller, einer fremden Sprache ungleich beſſer
Meiſter werde, als wenn man ſich alle Regeln der
Sprachlehre durchaus bekannt macht, und es dabey be-
wenden laͤßt. Das will nun eben auch ſagen, daß man
das Feinere einer fremden Sprache nicht anders, als
eben ſo, wie in der Mutterſprache, aus dem Verſtand
der Redensarten und ihrem Zuſammenhange erlernen
muͤſſe. Da findet man bey guten Schriftſtellern jedes
Wort an ſeinem Orte, und der Umfang in ſeiner Be-
deutung ergiebt ſich zugleich mit dem Verſtande der Re-
densart, und aus der Betrachtung der dadurch vorge-
ſtellten Sache. Alles koͤmmt dabey darauf an, daß
der Autor richtig gedacht, und ſich nett ausgedruͤckt ha-
be, und der Leſer die Aufmerkſamkeit und Faͤhigkeit be-
ſitze, ihm genau zu folgen.

§. 314. Es giebt ferner auch Saͤtze und Redens-
arten, die, fuͤr ſich allein betrachtet, widerſinniſch, an-
ſtoͤßig oder gar ungereimt und irrig ſcheinen, es ſey,
daß der Autor derſelben ſich aus Sorgloſigkeit, Nach-
laͤßigkeit ꝛc. in den Ausdruͤcken verſehen, oder daß er
eine Abſicht dabey habe, oder daß er in der That keine
ſchicklichere Worte in der Sprache gefunden. Jm letz-
ten Fall beſonders wird er natuͤrlicher Weiſe entweder
den Leſer vorerrinnern, oder durch beygefuͤgte Erlaͤute-
rungen naͤher anzeigen, wie er ſeine Worte will genom-
men wiſſen, und falls er es auf den Zuſammenhang
ankommen laͤßt, ſo fordert allerdings die hermeneutiſche
Billigkeit, daß man dieſen mit zu Rathe ziehe, um das

Anſtoͤßi-
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[188/0194] VIII. Hauptſtuͤck. gefaͤhr gleichem Umfange ſind. Wer es nun dabey bewenden laͤßt, dem bleibt das meiſte von dem, was der fremden Sprache eigen iſt, und die feinern Unter- ſchiede in dem Gebrauche ihrer Woͤrter und Redensar- ten, faſt nothwendig unbekannt. Man hat daher ſchon laͤngſt angemerkt, daß man mit wenigern grammati- ſchen Regeln, aber deſto mehrerer Leſung der claſſiſchen Schriftſteller, einer fremden Sprache ungleich beſſer Meiſter werde, als wenn man ſich alle Regeln der Sprachlehre durchaus bekannt macht, und es dabey be- wenden laͤßt. Das will nun eben auch ſagen, daß man das Feinere einer fremden Sprache nicht anders, als eben ſo, wie in der Mutterſprache, aus dem Verſtand der Redensarten und ihrem Zuſammenhange erlernen muͤſſe. Da findet man bey guten Schriftſtellern jedes Wort an ſeinem Orte, und der Umfang in ſeiner Be- deutung ergiebt ſich zugleich mit dem Verſtande der Re- densart, und aus der Betrachtung der dadurch vorge- ſtellten Sache. Alles koͤmmt dabey darauf an, daß der Autor richtig gedacht, und ſich nett ausgedruͤckt ha- be, und der Leſer die Aufmerkſamkeit und Faͤhigkeit be- ſitze, ihm genau zu folgen. §. 314. Es giebt ferner auch Saͤtze und Redens- arten, die, fuͤr ſich allein betrachtet, widerſinniſch, an- ſtoͤßig oder gar ungereimt und irrig ſcheinen, es ſey, daß der Autor derſelben ſich aus Sorgloſigkeit, Nach- laͤßigkeit ꝛc. in den Ausdruͤcken verſehen, oder daß er eine Abſicht dabey habe, oder daß er in der That keine ſchicklichere Worte in der Sprache gefunden. Jm letz- ten Fall beſonders wird er natuͤrlicher Weiſe entweder den Leſer vorerrinnern, oder durch beygefuͤgte Erlaͤute- rungen naͤher anzeigen, wie er ſeine Worte will genom- men wiſſen, und falls er es auf den Zuſammenhang ankommen laͤßt, ſo fordert allerdings die hermeneutiſche Billigkeit, daß man dieſen mit zu Rathe ziehe, um das Anſtoͤßi-

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Zitationshilfe: Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764, S. 188. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/194>, abgerufen am 23.11.2024.