Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 1. Leipzig, 1764.

Bild:
<< vorherige Seite
VIII. Hauptstück,
§. 563.

Wir merken hiebey noch an, daß wenn auch eine
fremde Erfahrung, an sich betrachtet, unrichtig oder
unzuverläßig ist, dieselbe dennoch öfters Anlaß geben
kann, der Sache selbst nachzudenken, und die Ver-
besserung aufzusuchen. So z. E. konnte man bey
Richers Beobachtung anstehen, ob nicht etwann seine
Penduluhr aus andern Gründen wäre verstellt wor-
den, ob nicht die Wärme das Pendul verlängert haben
möchte etc. Allein dieses alles hätte Newton und
Huygens nicht verhindert, ihren Satz festzusetzen,
weil Richers Beobachtung weiter nichts als ein Anlaß
war, der sie an die wahren Gründe und ihre Combi-
nation denken machte. Auf diese Art bleiben in jeden
Wissenschaften noch manche und auch an sich sehr
leichte Combinationen von Vordersätzen zurück, die
gleichsam auf Anlässe oder auf glückliche Einfälle
warten, um wirklich combinirt zu werden. Man sehe
hierüber, was wir bereits oben (§. 76, 77, 456, 459)
angemerkt haben.

§. 564.

Bey unsern eignen Erfahrungen findet sich das
Jndividuale immer ganz, und wir empfinden es auch
individual, so, daß wir folglich allerdings mehr in
dem Begriffe davon haben, als wenn wir uns fremde
Erfahrungen erzählen lassen, wo es immer schwerer
ist, unsern Begriff mit dem Begriffe des erzählenden
genau passen zu machen, weil jeder den seinigen aus
besondern Jndividualbegriffen zusammensetzt. Hin-
gegen ist auch bey unsern eignen Erfahrungen nicht so
gleich alles vollständig und richtig, zumal wenn sie
sehr zusammengesetzt sind. Denn bey zusammen-
gesetzten Empfindungen hat immer die stärkere
die Oberhand, und wir sind uns derselben mehr

bewußt.
VIII. Hauptſtuͤck,
§. 563.

Wir merken hiebey noch an, daß wenn auch eine
fremde Erfahrung, an ſich betrachtet, unrichtig oder
unzuverlaͤßig iſt, dieſelbe dennoch oͤfters Anlaß geben
kann, der Sache ſelbſt nachzudenken, und die Ver-
beſſerung aufzuſuchen. So z. E. konnte man bey
Richers Beobachtung anſtehen, ob nicht etwann ſeine
Penduluhr aus andern Gruͤnden waͤre verſtellt wor-
den, ob nicht die Waͤrme das Pendul verlaͤngert haben
moͤchte ꝛc. Allein dieſes alles haͤtte Newton und
Huygens nicht verhindert, ihren Satz feſtzuſetzen,
weil Richers Beobachtung weiter nichts als ein Anlaß
war, der ſie an die wahren Gruͤnde und ihre Combi-
nation denken machte. Auf dieſe Art bleiben in jeden
Wiſſenſchaften noch manche und auch an ſich ſehr
leichte Combinationen von Vorderſaͤtzen zuruͤck, die
gleichſam auf Anlaͤſſe oder auf gluͤckliche Einfaͤlle
warten, um wirklich combinirt zu werden. Man ſehe
hieruͤber, was wir bereits oben (§. 76, 77, 456, 459)
angemerkt haben.

§. 564.

Bey unſern eignen Erfahrungen findet ſich das
Jndividuale immer ganz, und wir empfinden es auch
individual, ſo, daß wir folglich allerdings mehr in
dem Begriffe davon haben, als wenn wir uns fremde
Erfahrungen erzaͤhlen laſſen, wo es immer ſchwerer
iſt, unſern Begriff mit dem Begriffe des erzaͤhlenden
genau paſſen zu machen, weil jeder den ſeinigen aus
beſondern Jndividualbegriffen zuſammenſetzt. Hin-
gegen iſt auch bey unſern eignen Erfahrungen nicht ſo
gleich alles vollſtaͤndig und richtig, zumal wenn ſie
ſehr zuſammengeſetzt ſind. Denn bey zuſammen-
geſetzten Empfindungen hat immer die ſtaͤrkere
die Oberhand, und wir ſind uns derſelben mehr

bewußt.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0378" n="356"/>
          <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">VIII.</hi> Haupt&#x017F;tu&#x0364;ck,</hi> </fw><lb/>
          <div n="3">
            <head>§. 563.</head><lb/>
            <p>Wir merken hiebey noch an, daß wenn auch eine<lb/>
fremde Erfahrung, an &#x017F;ich betrachtet, unrichtig oder<lb/>
unzuverla&#x0364;ßig i&#x017F;t, die&#x017F;elbe dennoch o&#x0364;fters Anlaß geben<lb/>
kann, der Sache &#x017F;elb&#x017F;t nachzudenken, und die Ver-<lb/>
be&#x017F;&#x017F;erung aufzu&#x017F;uchen. So z. E. konnte man bey<lb/><hi rendition="#fr">Richers</hi> Beobachtung an&#x017F;tehen, ob nicht etwann &#x017F;eine<lb/>
Penduluhr aus andern Gru&#x0364;nden wa&#x0364;re ver&#x017F;tellt wor-<lb/>
den, ob nicht die Wa&#x0364;rme das Pendul verla&#x0364;ngert haben<lb/>
mo&#x0364;chte &#xA75B;c. Allein die&#x017F;es alles ha&#x0364;tte <hi rendition="#fr">Newton</hi> und<lb/><hi rendition="#fr">Huygens</hi> nicht verhindert, ihren Satz fe&#x017F;tzu&#x017F;etzen,<lb/>
weil <hi rendition="#fr">Richers</hi> Beobachtung weiter nichts als ein Anlaß<lb/>
war, der &#x017F;ie an die wahren Gru&#x0364;nde und ihre Combi-<lb/>
nation denken machte. Auf die&#x017F;e Art bleiben in jeden<lb/>
Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften noch manche und auch an &#x017F;ich &#x017F;ehr<lb/>
leichte Combinationen von Vorder&#x017F;a&#x0364;tzen zuru&#x0364;ck, die<lb/>
gleich&#x017F;am auf Anla&#x0364;&#x017F;&#x017F;e oder auf glu&#x0364;ckliche Einfa&#x0364;lle<lb/>
warten, um wirklich combinirt zu werden. Man &#x017F;ehe<lb/>
hieru&#x0364;ber, was wir bereits oben (§. 76, 77, 456, 459)<lb/>
angemerkt haben.</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head>§. 564.</head><lb/>
            <p>Bey un&#x017F;ern eignen Erfahrungen findet &#x017F;ich das<lb/>
Jndividuale immer ganz, und wir empfinden es auch<lb/>
individual, &#x017F;o, daß wir folglich allerdings mehr in<lb/>
dem Begriffe davon haben, als wenn wir uns fremde<lb/>
Erfahrungen erza&#x0364;hlen la&#x017F;&#x017F;en, wo es immer &#x017F;chwerer<lb/>
i&#x017F;t, un&#x017F;ern Begriff mit dem Begriffe des erza&#x0364;hlenden<lb/>
genau pa&#x017F;&#x017F;en zu machen, weil jeder den &#x017F;einigen aus<lb/>
be&#x017F;ondern Jndividualbegriffen zu&#x017F;ammen&#x017F;etzt. Hin-<lb/>
gegen i&#x017F;t auch bey un&#x017F;ern eignen Erfahrungen nicht &#x017F;o<lb/>
gleich alles voll&#x017F;ta&#x0364;ndig und richtig, zumal wenn &#x017F;ie<lb/>
&#x017F;ehr zu&#x017F;ammenge&#x017F;etzt &#x017F;ind. Denn <hi rendition="#fr">bey zu&#x017F;ammen-<lb/>
ge&#x017F;etzten Empfindungen hat immer die &#x017F;ta&#x0364;rkere<lb/>
die Oberhand, und wir &#x017F;ind uns der&#x017F;elben mehr</hi><lb/>
<fw place="bottom" type="catch"><hi rendition="#fr">bewußt.</hi></fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[356/0378] VIII. Hauptſtuͤck, §. 563. Wir merken hiebey noch an, daß wenn auch eine fremde Erfahrung, an ſich betrachtet, unrichtig oder unzuverlaͤßig iſt, dieſelbe dennoch oͤfters Anlaß geben kann, der Sache ſelbſt nachzudenken, und die Ver- beſſerung aufzuſuchen. So z. E. konnte man bey Richers Beobachtung anſtehen, ob nicht etwann ſeine Penduluhr aus andern Gruͤnden waͤre verſtellt wor- den, ob nicht die Waͤrme das Pendul verlaͤngert haben moͤchte ꝛc. Allein dieſes alles haͤtte Newton und Huygens nicht verhindert, ihren Satz feſtzuſetzen, weil Richers Beobachtung weiter nichts als ein Anlaß war, der ſie an die wahren Gruͤnde und ihre Combi- nation denken machte. Auf dieſe Art bleiben in jeden Wiſſenſchaften noch manche und auch an ſich ſehr leichte Combinationen von Vorderſaͤtzen zuruͤck, die gleichſam auf Anlaͤſſe oder auf gluͤckliche Einfaͤlle warten, um wirklich combinirt zu werden. Man ſehe hieruͤber, was wir bereits oben (§. 76, 77, 456, 459) angemerkt haben. §. 564. Bey unſern eignen Erfahrungen findet ſich das Jndividuale immer ganz, und wir empfinden es auch individual, ſo, daß wir folglich allerdings mehr in dem Begriffe davon haben, als wenn wir uns fremde Erfahrungen erzaͤhlen laſſen, wo es immer ſchwerer iſt, unſern Begriff mit dem Begriffe des erzaͤhlenden genau paſſen zu machen, weil jeder den ſeinigen aus beſondern Jndividualbegriffen zuſammenſetzt. Hin- gegen iſt auch bey unſern eignen Erfahrungen nicht ſo gleich alles vollſtaͤndig und richtig, zumal wenn ſie ſehr zuſammengeſetzt ſind. Denn bey zuſammen- geſetzten Empfindungen hat immer die ſtaͤrkere die Oberhand, und wir ſind uns derſelben mehr bewußt.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon01_1764
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon01_1764/378
Zitationshilfe: Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 1. Leipzig, 1764, S. 356. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon01_1764/378>, abgerufen am 24.11.2024.