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Lambert, Johann Heinrich: Cosmologische Briefe über die Einrichtung des Weltbaues. Augsburg, 1761.

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Cosmologische Briefe
ne herum einen neuen Weg zu suchen, um jede Him-
mel von neuen Seiten zu betrachten. Ihnen müs-
sen Jahrhunderte, wie uns einzele Stunden vorbey
gehen, und die Unsterblichkeit müßte ihr Erbtheil
seyn, weil sich die Zeit nach ihren Verrichtungen
ausmißt, wie es auf unserer Erde Insecten giebt,
deren ganzes Leben sich innert dem Verlaufe weniger
Stunden anfängt und endigt, weil ihre Geschäfte
nicht längere Zeit fordern.

Glauben Sie nicht, mein Herr, daß das Welt-
gebäude auch von dieser grossen Seite müsse betrachtet
werden? oder sollte der Allerweiseste, der die Wel-
ten angeordnet hat, nur in den kleinern Theilen, wie
es von uns geschehen kann, bewundert werden, und
die Einrichtung und Anordnung aller Sonnen und
Irrsterne unbetrachtet bleiben. Ich gedenke das letz-
tere. So wie wir auf jedem Staube eine belebte
Welt, und in jedem Tropfen ein Meer voll Creatu-
ren durch die Vergrösserungsgläser entdecken, so fin-
den diese Astronomen Himmel voll grosse Weltkör-
per. Und wie uns bey unseren Betrachtungen einze-
le Stunden vergehen, so vergehen denselben bey Be-
trachtung ganzer Sonnensystemen Jahrtausende. Sie,
mein Herr, wissen ohnedeme, daß Zeit und Raum
weder groß noch klein sind, sondern nur in ihrer Ver-
hältnis gegen einander müssen betrachtet werden, weil
beyde mit einander grösser und kleiner werden. Ein
Schiffer, der in Indien fährt, ist längsten schon da-
zu gewöhnt, daß er seine Reise nicht nach Stunden,

sondern

Coſmologiſche Briefe
ne herum einen neuen Weg zu ſuchen, um jede Him-
mel von neuen Seiten zu betrachten. Ihnen muͤſ-
ſen Jahrhunderte, wie uns einzele Stunden vorbey
gehen, und die Unſterblichkeit muͤßte ihr Erbtheil
ſeyn, weil ſich die Zeit nach ihren Verrichtungen
ausmißt, wie es auf unſerer Erde Inſecten giebt,
deren ganzes Leben ſich innert dem Verlaufe weniger
Stunden anfaͤngt und endigt, weil ihre Geſchaͤfte
nicht laͤngere Zeit fordern.

Glauben Sie nicht, mein Herr, daß das Welt-
gebaͤude auch von dieſer groſſen Seite muͤſſe betrachtet
werden? oder ſollte der Allerweiſeſte, der die Wel-
ten angeordnet hat, nur in den kleinern Theilen, wie
es von uns geſchehen kann, bewundert werden, und
die Einrichtung und Anordnung aller Sonnen und
Irrſterne unbetrachtet bleiben. Ich gedenke das letz-
tere. So wie wir auf jedem Staube eine belebte
Welt, und in jedem Tropfen ein Meer voll Creatu-
ren durch die Vergroͤſſerungsglaͤſer entdecken, ſo fin-
den dieſe Aſtronomen Himmel voll groſſe Weltkoͤr-
per. Und wie uns bey unſeren Betrachtungen einze-
le Stunden vergehen, ſo vergehen denſelben bey Be-
trachtung ganzer Sonnenſyſtemen Jahrtauſende. Sie,
mein Herr, wiſſen ohnedeme, daß Zeit und Raum
weder groß noch klein ſind, ſondern nur in ihrer Ver-
haͤltnis gegen einander muͤſſen betrachtet werden, weil
beyde mit einander groͤſſer und kleiner werden. Ein
Schiffer, der in Indien faͤhrt, iſt laͤngſten ſchon da-
zu gewoͤhnt, daß er ſeine Reiſe nicht nach Stunden,

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[44/0077] Coſmologiſche Briefe ne herum einen neuen Weg zu ſuchen, um jede Him- mel von neuen Seiten zu betrachten. Ihnen muͤſ- ſen Jahrhunderte, wie uns einzele Stunden vorbey gehen, und die Unſterblichkeit muͤßte ihr Erbtheil ſeyn, weil ſich die Zeit nach ihren Verrichtungen ausmißt, wie es auf unſerer Erde Inſecten giebt, deren ganzes Leben ſich innert dem Verlaufe weniger Stunden anfaͤngt und endigt, weil ihre Geſchaͤfte nicht laͤngere Zeit fordern. Glauben Sie nicht, mein Herr, daß das Welt- gebaͤude auch von dieſer groſſen Seite muͤſſe betrachtet werden? oder ſollte der Allerweiſeſte, der die Wel- ten angeordnet hat, nur in den kleinern Theilen, wie es von uns geſchehen kann, bewundert werden, und die Einrichtung und Anordnung aller Sonnen und Irrſterne unbetrachtet bleiben. Ich gedenke das letz- tere. So wie wir auf jedem Staube eine belebte Welt, und in jedem Tropfen ein Meer voll Creatu- ren durch die Vergroͤſſerungsglaͤſer entdecken, ſo fin- den dieſe Aſtronomen Himmel voll groſſe Weltkoͤr- per. Und wie uns bey unſeren Betrachtungen einze- le Stunden vergehen, ſo vergehen denſelben bey Be- trachtung ganzer Sonnenſyſtemen Jahrtauſende. Sie, mein Herr, wiſſen ohnedeme, daß Zeit und Raum weder groß noch klein ſind, ſondern nur in ihrer Ver- haͤltnis gegen einander muͤſſen betrachtet werden, weil beyde mit einander groͤſſer und kleiner werden. Ein Schiffer, der in Indien faͤhrt, iſt laͤngſten ſchon da- zu gewoͤhnt, daß er ſeine Reiſe nicht nach Stunden, ſondern

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Zitationshilfe: Lambert, Johann Heinrich: Cosmologische Briefe über die Einrichtung des Weltbaues. Augsburg, 1761, S. 44. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_einrichtung_1761/77>, abgerufen am 04.05.2024.