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Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 3, Abt. 2. Freiburg (Breisgau) u. a., 1882.

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§. 97. Die ordentliche streitige Gerichtsbarkeit.

Die ordentliche streitige Gerichtsbarkeit umfaßt diejenigen
bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten und Strafsachen, welche vor
die im Art. 12 des Gerichtsverfassungsgesetzes aufgezählten
(sogenannten "ordentlichen") Gerichte gehören.

Im Einklange hiemit ist in den Einführungsgesetzen zur Civil-
prozeßordnung und zur Strafprozeßordnung §. 3 bestimmt, daß
diese Prozeßgesetze auf diejenigen bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten
beziehentl. Strafsachen, welche vor die ordentlichen Gerichte
gehören, Anwendung finden; d. h. daß sie nur für die ordentliche
streitige Gerichtsbarkeit vom Reich erlassen sind.

Nach dieser Definition der ordentlichen streitigen Gerichts-
barkeit wird dieselbe durch folgende Begriffsmomente, die einer
näheren Erörterung bedürfen, bestimmt:

1. Die "streitige" Gerichtsbarkeit ist nicht auf die Fälle
beschränkt, in welchen ein Streit der Parteien zu entscheiden ist,
sondern sie umfaßt auch diejenigen Rechtsangelegenheiten, in wel-
chen der Beklagte den Anspruch des Klägers anerkennt oder die
ihm zur Last gelegte strafbare Handlung zugesteht. Als "streitig"
wird die Gerichtsbarkeit nur deshalb bezeichnet, weil dem Ver-
klagten oder Angeklagten die Befugniß zusteht, Widerspruch gegen
den Klageantrag zu erheben und deshalb die rechtliche Mög-
lichkeit
eines Streites gegeben ist. Die streitige Gerichtsbarkeit
setzt Parteien voraus, welche unter einander einen Rechtsstreit
haben können 1). Diese rechtliche Möglichkeit ist maßgebend für
die ganze Einrichtung der zur Handhabung der Rechtspflege be-
stimmten Behörden und für die Struktur des Verfahrens; in der
Erledigung des "Streites" liegt der Schwerpunkt des Prozesses.
Für den Begriff der streitigen Gerichtsbarkeit als einer staat-
lichen Funktion ist aber "die Entscheidung eines Rechtsstreites"
nicht wesentlich, da einerseits die streitige Gerichtsbarkeit des
Staates in zahlreichen Fällen ausgeübt wird, in denen es an
einem Streit völlig gebricht, und andererseits die Entscheidung
eines Rechtsstreites durch Urtheil auch ohne alle Mitwirkung staat-
licher Behörden und ohne Inanspruchnahme staatlicher Hoheits-

Gerichtsbarkeit nicht enthält, wird von Löwe, Strafprozeßordn. S. 31 ff. sehr
treffend dargelegt.
1) Vgl. Hauser, Gerichtsverfassung S. 53 ff. A. S. Schultze, Kon-
kursrecht S. 144.
§. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit.

Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit umfaßt diejenigen
bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten und Strafſachen, welche vor
die im Art. 12 des Gerichtsverfaſſungsgeſetzes aufgezählten
(ſogenannten „ordentlichen“) Gerichte gehören.

Im Einklange hiemit iſt in den Einführungsgeſetzen zur Civil-
prozeßordnung und zur Strafprozeßordnung §. 3 beſtimmt, daß
dieſe Prozeßgeſetze auf diejenigen bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten
beziehentl. Strafſachen, welche vor die ordentlichen Gerichte
gehören, Anwendung finden; d. h. daß ſie nur für die ordentliche
ſtreitige Gerichtsbarkeit vom Reich erlaſſen ſind.

Nach dieſer Definition der ordentlichen ſtreitigen Gerichts-
barkeit wird dieſelbe durch folgende Begriffsmomente, die einer
näheren Erörterung bedürfen, beſtimmt:

1. Die „ſtreitige“ Gerichtsbarkeit iſt nicht auf die Fälle
beſchränkt, in welchen ein Streit der Parteien zu entſcheiden iſt,
ſondern ſie umfaßt auch diejenigen Rechtsangelegenheiten, in wel-
chen der Beklagte den Anſpruch des Klägers anerkennt oder die
ihm zur Laſt gelegte ſtrafbare Handlung zugeſteht. Als „ſtreitig“
wird die Gerichtsbarkeit nur deshalb bezeichnet, weil dem Ver-
klagten oder Angeklagten die Befugniß zuſteht, Widerſpruch gegen
den Klageantrag zu erheben und deshalb die rechtliche Mög-
lichkeit
eines Streites gegeben iſt. Die ſtreitige Gerichtsbarkeit
ſetzt Parteien voraus, welche unter einander einen Rechtsſtreit
haben können 1). Dieſe rechtliche Möglichkeit iſt maßgebend für
die ganze Einrichtung der zur Handhabung der Rechtspflege be-
ſtimmten Behörden und für die Struktur des Verfahrens; in der
Erledigung des „Streites“ liegt der Schwerpunkt des Prozeſſes.
Für den Begriff der ſtreitigen Gerichtsbarkeit als einer ſtaat-
lichen Funktion iſt aber „die Entſcheidung eines Rechtsſtreites“
nicht weſentlich, da einerſeits die ſtreitige Gerichtsbarkeit des
Staates in zahlreichen Fällen ausgeübt wird, in denen es an
einem Streit völlig gebricht, und andererſeits die Entſcheidung
eines Rechtsſtreites durch Urtheil auch ohne alle Mitwirkung ſtaat-
licher Behörden und ohne Inanſpruchnahme ſtaatlicher Hoheits-

Gerichtsbarkeit nicht enthält, wird von Löwe, Strafprozeßordn. S. 31 ff. ſehr
treffend dargelegt.
1) Vgl. Hauſer, Gerichtsverfaſſung S. 53 ff. A. S. Schultze, Kon-
kursrecht S. 144.
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[20/0030] §. 97. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit. Die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit umfaßt diejenigen bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten und Strafſachen, welche vor die im Art. 12 des Gerichtsverfaſſungsgeſetzes aufgezählten (ſogenannten „ordentlichen“) Gerichte gehören. Im Einklange hiemit iſt in den Einführungsgeſetzen zur Civil- prozeßordnung und zur Strafprozeßordnung §. 3 beſtimmt, daß dieſe Prozeßgeſetze auf diejenigen bürgerlichen Rechtsſtreitigkeiten beziehentl. Strafſachen, welche vor die ordentlichen Gerichte gehören, Anwendung finden; d. h. daß ſie nur für die ordentliche ſtreitige Gerichtsbarkeit vom Reich erlaſſen ſind. Nach dieſer Definition der ordentlichen ſtreitigen Gerichts- barkeit wird dieſelbe durch folgende Begriffsmomente, die einer näheren Erörterung bedürfen, beſtimmt: 1. Die „ſtreitige“ Gerichtsbarkeit iſt nicht auf die Fälle beſchränkt, in welchen ein Streit der Parteien zu entſcheiden iſt, ſondern ſie umfaßt auch diejenigen Rechtsangelegenheiten, in wel- chen der Beklagte den Anſpruch des Klägers anerkennt oder die ihm zur Laſt gelegte ſtrafbare Handlung zugeſteht. Als „ſtreitig“ wird die Gerichtsbarkeit nur deshalb bezeichnet, weil dem Ver- klagten oder Angeklagten die Befugniß zuſteht, Widerſpruch gegen den Klageantrag zu erheben und deshalb die rechtliche Mög- lichkeit eines Streites gegeben iſt. Die ſtreitige Gerichtsbarkeit ſetzt Parteien voraus, welche unter einander einen Rechtsſtreit haben können 1). Dieſe rechtliche Möglichkeit iſt maßgebend für die ganze Einrichtung der zur Handhabung der Rechtspflege be- ſtimmten Behörden und für die Struktur des Verfahrens; in der Erledigung des „Streites“ liegt der Schwerpunkt des Prozeſſes. Für den Begriff der ſtreitigen Gerichtsbarkeit als einer ſtaat- lichen Funktion iſt aber „die Entſcheidung eines Rechtsſtreites“ nicht weſentlich, da einerſeits die ſtreitige Gerichtsbarkeit des Staates in zahlreichen Fällen ausgeübt wird, in denen es an einem Streit völlig gebricht, und andererſeits die Entſcheidung eines Rechtsſtreites durch Urtheil auch ohne alle Mitwirkung ſtaat- licher Behörden und ohne Inanſpruchnahme ſtaatlicher Hoheits- 2) 1) Vgl. Hauſer, Gerichtsverfaſſung S. 53 ff. A. S. Schultze, Kon- kursrecht S. 144. 2) Gerichtsbarkeit nicht enthält, wird von Löwe, Strafprozeßordn. S. 31 ff. ſehr treffend dargelegt.

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Zitationshilfe: Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 3, Abt. 2. Freiburg (Breisgau) u. a., 1882, S. 20. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laband_staatsrecht0302_1882/30>, abgerufen am 19.04.2024.