Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 2. Tübingen, 1877.

Bild:
<< vorherige Seite

§. 57. Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung.
standtheile getreten sind. Nicht die materielle Wichtigkeit eines
Rechtssatzes, sondern dieses äußerliche Merkmal allein ist dafür
entscheidend, ob die allgemeine Regel der Artikel 5 und 7 oder
die spezielle Regel des Art. 78 Abs. 1 Anwendung findet. Wenn
demnach einmal die Verfassung durch ein Spezialgesetz mittelbar
abgeändert worden ist, so können die Bestimmungen dieses Spezial-
gesetzes fortan durch ein mit einfacher Majorität sanctionirtes
Gesetz verändert werden, wenngleich dadurch noch weiter gehende
Modifikationen der ursprünglichen Verfassungssätze herbeigeführt
werden. Auch dieser Grundsatz ist in der Praxis zur Anwendung
gekommen, indem die Kompetenz des Reichs-Oberhandelsgerichts
und damit die im Art. 4 der R.-V. abgegrenzte Kompetenz des
Reichs durch eine Reihe von Gesetzen erweitert worden ist 1), ohne
daß für dieselben der Charakter der verfassungsändernden Gesetze
in Anspruch genommen worden ist 2). Sollen die Bestimmungen
eines Spezialgesetzes dieselben Garantieen gegen Veränderungen
erhalten, wie diejenigen der Verfassung, ohne daß sie doch in die
Verfassungs-Urkunde selbst aufgenommen werden, so muß das
Spezialgesetz die ausdrückliche Anordnung enthalten, daß es nur
auf dem im Art. 78 der R.-V. bezeichneten Wege abgeändert
werden könne. Andererseits kann auch die Verfassungs-Urkunde
Abänderungen ihres Inhaltes im Wege der einfachen Gesetz-
gebung vorbehalten, entweder ausdrücklich, wie dies im Art. 79
Abs. 2 der Norddeutschen Bundesverf. der Fall war, oder indem
sie ihre Anordnungen "bis zum Erlaß eines Reichsgesetzes" auf-
stellt. Vgl. R.-V. Art. 20 Abs. 2. 60. 61 Abs. 2. 68. 75 Abs. 2.

III. Die Promulgation der Reichsgesetze.

Wenn der Reichstag einem Reichsgesetze die Zustimmung er-
theilt und der Bundesrath dasselbe definitiv genehmigt (sanctionirt)
hat, so sind die materiellen Voraussetzungen für den Erlaß des
Gesetzes gegeben. Es bedarf das Gesetz aber, um rechtlich wirk-
sam werden zu können, einer sinnlich wahrnehmbaren authentischen

1) Vgl. über dieselben Bd. I. S. 363 fg.
2) Gerade hieran aber zeigt es sich, wie bedenklich es in politischer Hin-
sicht ist, die Verfassungs-Grundsätze durch Spezialgesetze zu durchbrechen, ohne
den Wortlaut der Verfassungs-Urkunde entsprechend abzuändern.

§. 57. Der Weg der Geſetzgebung nach der Reichsverfaſſung.
ſtandtheile getreten ſind. Nicht die materielle Wichtigkeit eines
Rechtsſatzes, ſondern dieſes äußerliche Merkmal allein iſt dafür
entſcheidend, ob die allgemeine Regel der Artikel 5 und 7 oder
die ſpezielle Regel des Art. 78 Abſ. 1 Anwendung findet. Wenn
demnach einmal die Verfaſſung durch ein Spezialgeſetz mittelbar
abgeändert worden iſt, ſo können die Beſtimmungen dieſes Spezial-
geſetzes fortan durch ein mit einfacher Majorität ſanctionirtes
Geſetz verändert werden, wenngleich dadurch noch weiter gehende
Modifikationen der urſprünglichen Verfaſſungsſätze herbeigeführt
werden. Auch dieſer Grundſatz iſt in der Praxis zur Anwendung
gekommen, indem die Kompetenz des Reichs-Oberhandelsgerichts
und damit die im Art. 4 der R.-V. abgegrenzte Kompetenz des
Reichs durch eine Reihe von Geſetzen erweitert worden iſt 1), ohne
daß für dieſelben der Charakter der verfaſſungsändernden Geſetze
in Anſpruch genommen worden iſt 2). Sollen die Beſtimmungen
eines Spezialgeſetzes dieſelben Garantieen gegen Veränderungen
erhalten, wie diejenigen der Verfaſſung, ohne daß ſie doch in die
Verfaſſungs-Urkunde ſelbſt aufgenommen werden, ſo muß das
Spezialgeſetz die ausdrückliche Anordnung enthalten, daß es nur
auf dem im Art. 78 der R.-V. bezeichneten Wege abgeändert
werden könne. Andererſeits kann auch die Verfaſſungs-Urkunde
Abänderungen ihres Inhaltes im Wege der einfachen Geſetz-
gebung vorbehalten, entweder ausdrücklich, wie dies im Art. 79
Abſ. 2 der Norddeutſchen Bundesverf. der Fall war, oder indem
ſie ihre Anordnungen „bis zum Erlaß eines Reichsgeſetzes“ auf-
ſtellt. Vgl. R.-V. Art. 20 Abſ. 2. 60. 61 Abſ. 2. 68. 75 Abſ. 2.

III. Die Promulgation der Reichsgeſetze.

Wenn der Reichstag einem Reichsgeſetze die Zuſtimmung er-
theilt und der Bundesrath daſſelbe definitiv genehmigt (ſanctionirt)
hat, ſo ſind die materiellen Vorausſetzungen für den Erlaß des
Geſetzes gegeben. Es bedarf das Geſetz aber, um rechtlich wirk-
ſam werden zu können, einer ſinnlich wahrnehmbaren authentiſchen

1) Vgl. über dieſelben Bd. I. S. 363 fg.
2) Gerade hieran aber zeigt es ſich, wie bedenklich es in politiſcher Hin-
ſicht iſt, die Verfaſſungs-Grundſätze durch Spezialgeſetze zu durchbrechen, ohne
den Wortlaut der Verfaſſungs-Urkunde entſprechend abzuändern.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0055" n="41"/><fw place="top" type="header">§. 57. Der Weg der Ge&#x017F;etzgebung nach der Reichsverfa&#x017F;&#x017F;ung.</fw><lb/>
&#x017F;tandtheile getreten &#x017F;ind. Nicht die materielle Wichtigkeit eines<lb/>
Rechts&#x017F;atzes, &#x017F;ondern die&#x017F;es äußerliche Merkmal allein i&#x017F;t dafür<lb/>
ent&#x017F;cheidend, ob die allgemeine Regel der Artikel 5 und 7 oder<lb/>
die &#x017F;pezielle Regel des Art. 78 Ab&#x017F;. 1 Anwendung findet. Wenn<lb/>
demnach einmal die Verfa&#x017F;&#x017F;ung durch ein Spezialge&#x017F;etz mittelbar<lb/>
abgeändert worden i&#x017F;t, &#x017F;o können die Be&#x017F;timmungen die&#x017F;es Spezial-<lb/>
ge&#x017F;etzes fortan durch ein mit einfacher Majorität &#x017F;anctionirtes<lb/>
Ge&#x017F;etz verändert werden, wenngleich dadurch noch weiter gehende<lb/>
Modifikationen der ur&#x017F;prünglichen Verfa&#x017F;&#x017F;ungs&#x017F;ätze herbeigeführt<lb/>
werden. Auch die&#x017F;er Grund&#x017F;atz i&#x017F;t in der Praxis zur Anwendung<lb/>
gekommen, indem die Kompetenz des Reichs-Oberhandelsgerichts<lb/>
und damit die im Art. 4 der R.-V. abgegrenzte Kompetenz des<lb/>
Reichs durch eine Reihe von Ge&#x017F;etzen erweitert worden i&#x017F;t <note place="foot" n="1)">Vgl. über die&#x017F;elben Bd. <hi rendition="#aq">I.</hi> S. 363 fg.</note>, ohne<lb/>
daß für die&#x017F;elben der Charakter der verfa&#x017F;&#x017F;ungsändernden Ge&#x017F;etze<lb/>
in An&#x017F;pruch genommen worden i&#x017F;t <note place="foot" n="2)">Gerade hieran aber zeigt es &#x017F;ich, wie bedenklich es in politi&#x017F;cher Hin-<lb/>
&#x017F;icht i&#x017F;t, die Verfa&#x017F;&#x017F;ungs-Grund&#x017F;ätze durch Spezialge&#x017F;etze zu durchbrechen, ohne<lb/>
den Wortlaut der Verfa&#x017F;&#x017F;ungs-Urkunde ent&#x017F;prechend abzuändern.</note>. Sollen die Be&#x017F;timmungen<lb/>
eines Spezialge&#x017F;etzes die&#x017F;elben Garantieen gegen Veränderungen<lb/>
erhalten, wie diejenigen der Verfa&#x017F;&#x017F;ung, ohne daß &#x017F;ie doch in die<lb/>
Verfa&#x017F;&#x017F;ungs-Urkunde &#x017F;elb&#x017F;t aufgenommen werden, &#x017F;o muß das<lb/>
Spezialge&#x017F;etz die ausdrückliche Anordnung enthalten, daß es nur<lb/>
auf dem im Art. 78 der R.-V. bezeichneten Wege abgeändert<lb/>
werden könne. Anderer&#x017F;eits kann auch die Verfa&#x017F;&#x017F;ungs-Urkunde<lb/>
Abänderungen ihres Inhaltes im Wege der <hi rendition="#g">einfachen</hi> Ge&#x017F;etz-<lb/>
gebung vorbehalten, entweder ausdrücklich, wie dies im Art. 79<lb/>
Ab&#x017F;. 2 der Norddeut&#x017F;chen Bundesverf. der Fall war, oder indem<lb/>
&#x017F;ie ihre Anordnungen &#x201E;bis zum Erlaß eines Reichsge&#x017F;etzes&#x201C; auf-<lb/>
&#x017F;tellt. Vgl. R.-V. Art. 20 Ab&#x017F;. 2. 60. 61 Ab&#x017F;. 2. 68. 75 Ab&#x017F;. 2.</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head><hi rendition="#aq">III.</hi><hi rendition="#g">Die Promulgation der Reichsge&#x017F;etze</hi>.</head><lb/>
            <p>Wenn der Reichstag einem Reichsge&#x017F;etze die Zu&#x017F;timmung er-<lb/>
theilt und der Bundesrath da&#x017F;&#x017F;elbe definitiv genehmigt (&#x017F;anctionirt)<lb/>
hat, &#x017F;o &#x017F;ind die materiellen Voraus&#x017F;etzungen für den Erlaß des<lb/>
Ge&#x017F;etzes gegeben. Es bedarf das Ge&#x017F;etz aber, um rechtlich wirk-<lb/>
&#x017F;am werden zu können, einer &#x017F;innlich wahrnehmbaren authenti&#x017F;chen<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[41/0055] §. 57. Der Weg der Geſetzgebung nach der Reichsverfaſſung. ſtandtheile getreten ſind. Nicht die materielle Wichtigkeit eines Rechtsſatzes, ſondern dieſes äußerliche Merkmal allein iſt dafür entſcheidend, ob die allgemeine Regel der Artikel 5 und 7 oder die ſpezielle Regel des Art. 78 Abſ. 1 Anwendung findet. Wenn demnach einmal die Verfaſſung durch ein Spezialgeſetz mittelbar abgeändert worden iſt, ſo können die Beſtimmungen dieſes Spezial- geſetzes fortan durch ein mit einfacher Majorität ſanctionirtes Geſetz verändert werden, wenngleich dadurch noch weiter gehende Modifikationen der urſprünglichen Verfaſſungsſätze herbeigeführt werden. Auch dieſer Grundſatz iſt in der Praxis zur Anwendung gekommen, indem die Kompetenz des Reichs-Oberhandelsgerichts und damit die im Art. 4 der R.-V. abgegrenzte Kompetenz des Reichs durch eine Reihe von Geſetzen erweitert worden iſt 1), ohne daß für dieſelben der Charakter der verfaſſungsändernden Geſetze in Anſpruch genommen worden iſt 2). Sollen die Beſtimmungen eines Spezialgeſetzes dieſelben Garantieen gegen Veränderungen erhalten, wie diejenigen der Verfaſſung, ohne daß ſie doch in die Verfaſſungs-Urkunde ſelbſt aufgenommen werden, ſo muß das Spezialgeſetz die ausdrückliche Anordnung enthalten, daß es nur auf dem im Art. 78 der R.-V. bezeichneten Wege abgeändert werden könne. Andererſeits kann auch die Verfaſſungs-Urkunde Abänderungen ihres Inhaltes im Wege der einfachen Geſetz- gebung vorbehalten, entweder ausdrücklich, wie dies im Art. 79 Abſ. 2 der Norddeutſchen Bundesverf. der Fall war, oder indem ſie ihre Anordnungen „bis zum Erlaß eines Reichsgeſetzes“ auf- ſtellt. Vgl. R.-V. Art. 20 Abſ. 2. 60. 61 Abſ. 2. 68. 75 Abſ. 2. III. Die Promulgation der Reichsgeſetze. Wenn der Reichstag einem Reichsgeſetze die Zuſtimmung er- theilt und der Bundesrath daſſelbe definitiv genehmigt (ſanctionirt) hat, ſo ſind die materiellen Vorausſetzungen für den Erlaß des Geſetzes gegeben. Es bedarf das Geſetz aber, um rechtlich wirk- ſam werden zu können, einer ſinnlich wahrnehmbaren authentiſchen 1) Vgl. über dieſelben Bd. I. S. 363 fg. 2) Gerade hieran aber zeigt es ſich, wie bedenklich es in politiſcher Hin- ſicht iſt, die Verfaſſungs-Grundſätze durch Spezialgeſetze zu durchbrechen, ohne den Wortlaut der Verfaſſungs-Urkunde entſprechend abzuändern.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/laband_staatsrecht02_1878
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/laband_staatsrecht02_1878/55
Zitationshilfe: Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 2. Tübingen, 1877, S. 41. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laband_staatsrecht02_1878/55>, abgerufen am 05.12.2024.