Ebenso ist es eine Chimäre, die Competenz der Gesammt- staatsgewalt in der Art von der Competenz der Einzelstaatsgewalt abgränzen zu wollen, daß kein Gebiet übrig bleibt, für welches es zweifelhaft ist, welcher Staatsgewalt die Competenz zusteht, und daß die Abgränzung für alle Zeit unabänderlich dieselbe bleibt. Es entsteht also auch hier die Frage, wer hat den Zweifel über die Competenzgränze zu entscheiden, die Centralgewalt oder der Einzelstaat, und wer hat über eine Veränderung der Competenz zu befinden. Weisen die Einzelstaaten durch ihren Willen dem Bunde die Gränzen seiner staatlichen Befugnisse zu oder empfan- gen sie umgekehrt von der Centralgewalt die rechtliche Begränzung ihrer Willenssphäre? Nur eins von beiden ist möglich und die Beantwortung der Frage enthält zugleich die Entscheidung, wer souverän ist, die Centralgewalt oder der Einzelstaat.
Vollkommen treffend sagt Hänel S. 149: "In der Rechts- macht des Staates über seine Competenz liegt die oberste Bedin- gung der Selbstgenugsamkeit, der Kernpunkt seiner Souveränetät." In Anwendung auf das Reich kömmt Hänel S. 240 zu dem Schluß, daß das Reich ausschließlich souverän ist "denn mit der souveränen Bestimmung seiner eigenen Competenz bestimmt es in endgültiger entscheidender Weise über den Umfang der Compe- tenz der Einzelstaaten, die um deswillen souverän nicht sein können. Damit ist das Reich eine Potenz über den Einzelstaaten auch in der Rechtssphäre, welche nach Maßgabe der bestehenden Bestimmungen der Verfassung ihrer Selbständigkeit und ihrer Wirksamkeit nach der Weise von Staaten anheim fällt." Ebenso haben schon vorher aus demselben Grunde Auerbach S. 92 und Meyer Erörter. S. 82 den Einzelstaaten die Sou- veränetät abgesprochen 1).
In einer Theilung der Souveränetät ist daher das Wesen des Bundesstaates nicht zu sehen; die Souveränetät steht im Staa- tenbund ganz den Einzelstaaten, im Bundesstaat ganz dem Gesammtstaat zu.
2) Im Zusammenhange mit seiner Auffassung von dem We- sen des Bundesstaates fordert Waitz, daß die Bundesstaatsge-
1)Meyer nimmt zwar die Reservatrechte aus und erklärt hinsichtlich dieser die Einzelstaaten für souverän; indeß wird hier der Begriff der Souveränetät verwechselt mit der Zusicherung der Unentziehbarkeit eines Rechts.
§. 8. Der Begriff des Bundesſtaates.
Ebenſo iſt es eine Chimäre, die Competenz der Geſammt- ſtaatsgewalt in der Art von der Competenz der Einzelſtaatsgewalt abgränzen zu wollen, daß kein Gebiet übrig bleibt, für welches es zweifelhaft iſt, welcher Staatsgewalt die Competenz zuſteht, und daß die Abgränzung für alle Zeit unabänderlich dieſelbe bleibt. Es entſteht alſo auch hier die Frage, wer hat den Zweifel über die Competenzgränze zu entſcheiden, die Centralgewalt oder der Einzelſtaat, und wer hat über eine Veränderung der Competenz zu befinden. Weiſen die Einzelſtaaten durch ihren Willen dem Bunde die Gränzen ſeiner ſtaatlichen Befugniſſe zu oder empfan- gen ſie umgekehrt von der Centralgewalt die rechtliche Begränzung ihrer Willensſphäre? Nur eins von beiden iſt möglich und die Beantwortung der Frage enthält zugleich die Entſcheidung, wer ſouverän iſt, die Centralgewalt oder der Einzelſtaat.
Vollkommen treffend ſagt Hänel S. 149: „In der Rechts- macht des Staates über ſeine Competenz liegt die oberſte Bedin- gung der Selbſtgenugſamkeit, der Kernpunkt ſeiner Souveränetät.“ In Anwendung auf das Reich kömmt Hänel S. 240 zu dem Schluß, daß das Reich ausſchließlich ſouverän iſt „denn mit der ſouveränen Beſtimmung ſeiner eigenen Competenz beſtimmt es in endgültiger entſcheidender Weiſe über den Umfang der Compe- tenz der Einzelſtaaten, die um deswillen ſouverän nicht ſein können. Damit iſt das Reich eine Potenz über den Einzelſtaaten auch in der Rechtsſphäre, welche nach Maßgabe der beſtehenden Beſtimmungen der Verfaſſung ihrer Selbſtändigkeit und ihrer Wirkſamkeit nach der Weiſe von Staaten anheim fällt.“ Ebenſo haben ſchon vorher aus demſelben Grunde Auerbach S. 92 und Meyer Erörter. S. 82 den Einzelſtaaten die Sou- veränetät abgeſprochen 1).
In einer Theilung der Souveränetät iſt daher das Weſen des Bundesſtaates nicht zu ſehen; die Souveränetät ſteht im Staa- tenbund ganz den Einzelſtaaten, im Bundesſtaat ganz dem Geſammtſtaat zu.
2) Im Zuſammenhange mit ſeiner Auffaſſung von dem We- ſen des Bundesſtaates fordert Waitz, daß die Bundesſtaatsge-
1)Meyer nimmt zwar die Reſervatrechte aus und erklärt hinſichtlich dieſer die Einzelſtaaten für ſouverän; indeß wird hier der Begriff der Souveränetät verwechſelt mit der Zuſicherung der Unentziehbarkeit eines Rechts.
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§. 8. Der Begriff des Bundesſtaates.
Ebenſo iſt es eine Chimäre, die Competenz der Geſammt-
ſtaatsgewalt in der Art von der Competenz der Einzelſtaatsgewalt
abgränzen zu wollen, daß kein Gebiet übrig bleibt, für welches
es zweifelhaft iſt, welcher Staatsgewalt die Competenz zuſteht, und
daß die Abgränzung für alle Zeit unabänderlich dieſelbe bleibt.
Es entſteht alſo auch hier die Frage, wer hat den Zweifel über
die Competenzgränze zu entſcheiden, die Centralgewalt oder der
Einzelſtaat, und wer hat über eine Veränderung der Competenz
zu befinden. Weiſen die Einzelſtaaten durch ihren Willen dem
Bunde die Gränzen ſeiner ſtaatlichen Befugniſſe zu oder empfan-
gen ſie umgekehrt von der Centralgewalt die rechtliche Begränzung
ihrer Willensſphäre? Nur eins von beiden iſt möglich und die
Beantwortung der Frage enthält zugleich die Entſcheidung, wer
ſouverän iſt, die Centralgewalt oder der Einzelſtaat.
Vollkommen treffend ſagt Hänel S. 149: „In der Rechts-
macht des Staates über ſeine Competenz liegt die oberſte Bedin-
gung der Selbſtgenugſamkeit, der Kernpunkt ſeiner Souveränetät.“
In Anwendung auf das Reich kömmt Hänel S. 240 zu dem
Schluß, daß das Reich ausſchließlich ſouverän iſt „denn mit
der ſouveränen Beſtimmung ſeiner eigenen Competenz beſtimmt es
in endgültiger entſcheidender Weiſe über den Umfang der Compe-
tenz der Einzelſtaaten, die um deswillen ſouverän nicht
ſein können. Damit iſt das Reich eine Potenz über den
Einzelſtaaten auch in der Rechtsſphäre, welche nach Maßgabe
der beſtehenden Beſtimmungen der Verfaſſung ihrer Selbſtändigkeit
und ihrer Wirkſamkeit nach der Weiſe von Staaten anheim fällt.“
Ebenſo haben ſchon vorher aus demſelben Grunde Auerbach
S. 92 und Meyer Erörter. S. 82 den Einzelſtaaten die Sou-
veränetät abgeſprochen 1).
In einer Theilung der Souveränetät iſt daher das Weſen
des Bundesſtaates nicht zu ſehen; die Souveränetät ſteht im Staa-
tenbund ganz den Einzelſtaaten, im Bundesſtaat ganz dem
Geſammtſtaat zu.
2) Im Zuſammenhange mit ſeiner Auffaſſung von dem We-
ſen des Bundesſtaates fordert Waitz, daß die Bundesſtaatsge-
1) Meyer nimmt zwar die Reſervatrechte aus und erklärt hinſichtlich
dieſer die Einzelſtaaten für ſouverän; indeß wird hier der Begriff der
Souveränetät verwechſelt mit der Zuſicherung der Unentziehbarkeit eines Rechts.
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Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 1. Tübingen, 1876, S. 75. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laband_staatsrecht01_1876/95>, abgerufen am 22.11.2024.
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