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Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 1. Tübingen, 1876.

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§. 40. Die Pflichten u. Beschränkungen der Reichsbeamten.
ausdehnen, ob die vorgesetzte Behörde die bestehenden Rechtsvor-
schriften materiell richtig ausgelegt und angewendet hat, so würde
man das System der Behörden-Organisation und die Unterord-
nung der niederen Behörden unter die oberen nicht nur zerstören,
sondern geradezu auf den Kopf stellen. Die untere Behörde und
der niedriger gestellte Beamte hätte das Recht und die Pflicht, die
Entscheidungen und Verfügungen der oberen Behörde und des
vorgesetzten Beamten einer Ueberprüfung zu unterziehen und es
würde demnach nicht das Reichs-Oberhandelsgericht, sondern der
Kreisgerichts-Executor, nicht das Finanzministerium oder die Ober-
zolldirektion sondern der Zolleinnehmer in Wahrheit die letzte In-
stanz sein. In allen Fällen, in welchen die höhere Instanz eine
andere Rechtsansicht wie die niedere festhält, müßte sie auch die
Durchführung unmittelbar und ohne Mitwirkung der niederen
Instanz übernehmen oder gewärtigen, daß die letztere ihre Dienste
verweigert. Ein solches System ist keineswegs undenkbar oder
unerhört: es bestand wenigstens theilweise im Mittelalter, wo ein
Urtheil der unteren Instanz nur angefochten werden konnte durch
die sogen. Urtheilsschelte d. h. durch eine Klage gegen den Richter
und die Urtheilsfinder wegen Rechtsverletzung oder Amtsmiß-
brauchs bei dem höheren Richter, und wo der letztere sein Erkennt-
niß selbst zur Vollstreckung brachte. Das unbedingte und unbe-
schränkte Prüfungsrecht bringt eben die unbedingte und unbe-
schränkte Verantwortlichkeit als Correlat mit sich.

In dem heutigen Staate dagegen wird in den verschiedenen,
einander übergeordneten oder auch nebengeordneten Behörden die
einheitliche Staatsgewalt thätig; die Behörden sind durchweg auf
ein Zusammenwirken angewiesen und es ist daher eine Vollziehung
der staatlichen Geschäfte gar nicht denkbar, wenn nicht jeder Be-
amte Entscheidungen, Verfügungen und Requisitionen befolgt, ohne
die materielle Richtigkeit und Rechtmäßigkeit seinerseits nochmals
zu prüfen und ohne von dem Ausfall dieser Prüfung es abhängig
zu machen, ob er seine Mitwirkung leisten oder versagen will.

Die Prüfungspflicht des Beamten erstreckt sich vielmehr ledig-

eine Zwischenverhandlung mit dem Vorgesetzten auferlegt, also gewissermaaßen
statt eines prompten, einen schleppenden Gehorsam von ihm verlangt, sondern
dadurch, daß man fest bestimmt, wieweit sich die eigene, selbstständige Verant-
wortlichkeit des Beamten erstreckt.

§. 40. Die Pflichten u. Beſchränkungen der Reichsbeamten.
ausdehnen, ob die vorgeſetzte Behörde die beſtehenden Rechtsvor-
ſchriften materiell richtig ausgelegt und angewendet hat, ſo würde
man das Syſtem der Behörden-Organiſation und die Unterord-
nung der niederen Behörden unter die oberen nicht nur zerſtören,
ſondern geradezu auf den Kopf ſtellen. Die untere Behörde und
der niedriger geſtellte Beamte hätte das Recht und die Pflicht, die
Entſcheidungen und Verfügungen der oberen Behörde und des
vorgeſetzten Beamten einer Ueberprüfung zu unterziehen und es
würde demnach nicht das Reichs-Oberhandelsgericht, ſondern der
Kreisgerichts-Executor, nicht das Finanzminiſterium oder die Ober-
zolldirektion ſondern der Zolleinnehmer in Wahrheit die letzte In-
ſtanz ſein. In allen Fällen, in welchen die höhere Inſtanz eine
andere Rechtsanſicht wie die niedere feſthält, müßte ſie auch die
Durchführung unmittelbar und ohne Mitwirkung der niederen
Inſtanz übernehmen oder gewärtigen, daß die letztere ihre Dienſte
verweigert. Ein ſolches Syſtem iſt keineswegs undenkbar oder
unerhört: es beſtand wenigſtens theilweiſe im Mittelalter, wo ein
Urtheil der unteren Inſtanz nur angefochten werden konnte durch
die ſogen. Urtheilsſchelte d. h. durch eine Klage gegen den Richter
und die Urtheilsfinder wegen Rechtsverletzung oder Amtsmiß-
brauchs bei dem höheren Richter, und wo der letztere ſein Erkennt-
niß ſelbſt zur Vollſtreckung brachte. Das unbedingte und unbe-
ſchränkte Prüfungsrecht bringt eben die unbedingte und unbe-
ſchränkte Verantwortlichkeit als Correlat mit ſich.

In dem heutigen Staate dagegen wird in den verſchiedenen,
einander übergeordneten oder auch nebengeordneten Behörden die
einheitliche Staatsgewalt thätig; die Behörden ſind durchweg auf
ein Zuſammenwirken angewieſen und es iſt daher eine Vollziehung
der ſtaatlichen Geſchäfte gar nicht denkbar, wenn nicht jeder Be-
amte Entſcheidungen, Verfügungen und Requiſitionen befolgt, ohne
die materielle Richtigkeit und Rechtmäßigkeit ſeinerſeits nochmals
zu prüfen und ohne von dem Ausfall dieſer Prüfung es abhängig
zu machen, ob er ſeine Mitwirkung leiſten oder verſagen will.

Die Prüfungspflicht des Beamten erſtreckt ſich vielmehr ledig-

eine Zwiſchenverhandlung mit dem Vorgeſetzten auferlegt, alſo gewiſſermaaßen
ſtatt eines prompten, einen ſchleppenden Gehorſam von ihm verlangt, ſondern
dadurch, daß man feſt beſtimmt, wieweit ſich die eigene, ſelbſtſtändige Verant-
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[425/0445] §. 40. Die Pflichten u. Beſchränkungen der Reichsbeamten. ausdehnen, ob die vorgeſetzte Behörde die beſtehenden Rechtsvor- ſchriften materiell richtig ausgelegt und angewendet hat, ſo würde man das Syſtem der Behörden-Organiſation und die Unterord- nung der niederen Behörden unter die oberen nicht nur zerſtören, ſondern geradezu auf den Kopf ſtellen. Die untere Behörde und der niedriger geſtellte Beamte hätte das Recht und die Pflicht, die Entſcheidungen und Verfügungen der oberen Behörde und des vorgeſetzten Beamten einer Ueberprüfung zu unterziehen und es würde demnach nicht das Reichs-Oberhandelsgericht, ſondern der Kreisgerichts-Executor, nicht das Finanzminiſterium oder die Ober- zolldirektion ſondern der Zolleinnehmer in Wahrheit die letzte In- ſtanz ſein. In allen Fällen, in welchen die höhere Inſtanz eine andere Rechtsanſicht wie die niedere feſthält, müßte ſie auch die Durchführung unmittelbar und ohne Mitwirkung der niederen Inſtanz übernehmen oder gewärtigen, daß die letztere ihre Dienſte verweigert. Ein ſolches Syſtem iſt keineswegs undenkbar oder unerhört: es beſtand wenigſtens theilweiſe im Mittelalter, wo ein Urtheil der unteren Inſtanz nur angefochten werden konnte durch die ſogen. Urtheilsſchelte d. h. durch eine Klage gegen den Richter und die Urtheilsfinder wegen Rechtsverletzung oder Amtsmiß- brauchs bei dem höheren Richter, und wo der letztere ſein Erkennt- niß ſelbſt zur Vollſtreckung brachte. Das unbedingte und unbe- ſchränkte Prüfungsrecht bringt eben die unbedingte und unbe- ſchränkte Verantwortlichkeit als Correlat mit ſich. In dem heutigen Staate dagegen wird in den verſchiedenen, einander übergeordneten oder auch nebengeordneten Behörden die einheitliche Staatsgewalt thätig; die Behörden ſind durchweg auf ein Zuſammenwirken angewieſen und es iſt daher eine Vollziehung der ſtaatlichen Geſchäfte gar nicht denkbar, wenn nicht jeder Be- amte Entſcheidungen, Verfügungen und Requiſitionen befolgt, ohne die materielle Richtigkeit und Rechtmäßigkeit ſeinerſeits nochmals zu prüfen und ohne von dem Ausfall dieſer Prüfung es abhängig zu machen, ob er ſeine Mitwirkung leiſten oder verſagen will. Die Prüfungspflicht des Beamten erſtreckt ſich vielmehr ledig- 1) 1) eine Zwiſchenverhandlung mit dem Vorgeſetzten auferlegt, alſo gewiſſermaaßen ſtatt eines prompten, einen ſchleppenden Gehorſam von ihm verlangt, ſondern dadurch, daß man feſt beſtimmt, wieweit ſich die eigene, ſelbſtſtändige Verant- wortlichkeit des Beamten erſtreckt.

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Zitationshilfe: Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 1. Tübingen, 1876, S. 425. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laband_staatsrecht01_1876/445>, abgerufen am 22.11.2024.