Kurz, Hermann: Die beiden Tubus. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 18. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 149–277. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.konnte sich denken, daß der Vater jetzt zur Mutter hinabgehen werde, um sein gepreßtes, gekränktes Herz bei ihr auszuleeren. Wilhelm konnte der Versüßung nicht widerstehen, sich zu vergewissern, wie der Pfarrer von Y . . . burg in der sonst von beiden Seiten jeden Morgen so sehnlich erwarteten Begrüßungsstunde sich verhalte. Er holte daher das Fernrohr und blickte hinab. Der Pfarrer von Y . . . burg stand so gleichmüthig wie immer an seinem Fenster und sah herauf, als wenn nichts vorgefallen wäre. Bei näherer Recognoscirung entdeckte Wilhelm jedoch, daß der Wegelagerer an seinem Fernrohr eine sonderbare Vorrichtung angebracht hatte, welche an der einen Seite ein Stück weit über dasselbe hinausragte. Wilhelm sah genauer hin und zerbrach sich den Kopf; doch wurde er seiner Sache immer gewisser und konnte zuletzt nicht mehr zweifeln, daß es ein -- Scheuleder war. Er hatte Verstand genug, um sich zu sagen, daß Niemand im Ernste daran denken könne, einem Fernrohr durch eine Augenklappe die Beschränkung aufzuerlegen, welcher man ein Pferdsauge unterwirft, daß also die angebliche Vorkehrung nichts anderes sei, als ein Werk schwarzer Bosheit und phantastisch abgefeimter Tücke, ein Symbol, durch welches der Unhold den Bewohnern des Pfarrhauses von A . . . berg insinuiren wolle, daß sie aus dem Focus seines Blickes ausgeschlossen seien und sich nicht beigehen lassen dürften, konnte sich denken, daß der Vater jetzt zur Mutter hinabgehen werde, um sein gepreßtes, gekränktes Herz bei ihr auszuleeren. Wilhelm konnte der Versüßung nicht widerstehen, sich zu vergewissern, wie der Pfarrer von Y . . . burg in der sonst von beiden Seiten jeden Morgen so sehnlich erwarteten Begrüßungsstunde sich verhalte. Er holte daher das Fernrohr und blickte hinab. Der Pfarrer von Y . . . burg stand so gleichmüthig wie immer an seinem Fenster und sah herauf, als wenn nichts vorgefallen wäre. Bei näherer Recognoscirung entdeckte Wilhelm jedoch, daß der Wegelagerer an seinem Fernrohr eine sonderbare Vorrichtung angebracht hatte, welche an der einen Seite ein Stück weit über dasselbe hinausragte. Wilhelm sah genauer hin und zerbrach sich den Kopf; doch wurde er seiner Sache immer gewisser und konnte zuletzt nicht mehr zweifeln, daß es ein — Scheuleder war. Er hatte Verstand genug, um sich zu sagen, daß Niemand im Ernste daran denken könne, einem Fernrohr durch eine Augenklappe die Beschränkung aufzuerlegen, welcher man ein Pferdsauge unterwirft, daß also die angebliche Vorkehrung nichts anderes sei, als ein Werk schwarzer Bosheit und phantastisch abgefeimter Tücke, ein Symbol, durch welches der Unhold den Bewohnern des Pfarrhauses von A . . . berg insinuiren wolle, daß sie aus dem Focus seines Blickes ausgeschlossen seien und sich nicht beigehen lassen dürften, <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="3"> <p><pb facs="#f0125"/> konnte sich denken, daß der Vater jetzt zur Mutter hinabgehen werde, um sein gepreßtes, gekränktes Herz bei ihr auszuleeren.</p><lb/> <p>Wilhelm konnte der Versüßung nicht widerstehen, sich zu vergewissern, wie der Pfarrer von Y . . . burg in der sonst von beiden Seiten jeden Morgen so sehnlich erwarteten Begrüßungsstunde sich verhalte.</p><lb/> <p>Er holte daher das Fernrohr und blickte hinab.</p><lb/> <p>Der Pfarrer von Y . . . burg stand so gleichmüthig wie immer an seinem Fenster und sah herauf, als wenn nichts vorgefallen wäre.</p><lb/> <p>Bei näherer Recognoscirung entdeckte Wilhelm jedoch, daß der Wegelagerer an seinem Fernrohr eine sonderbare Vorrichtung angebracht hatte, welche an der einen Seite ein Stück weit über dasselbe hinausragte. Wilhelm sah genauer hin und zerbrach sich den Kopf; doch wurde er seiner Sache immer gewisser und konnte zuletzt nicht mehr zweifeln, daß es ein — Scheuleder war. Er hatte Verstand genug, um sich zu sagen, daß Niemand im Ernste daran denken könne, einem Fernrohr durch eine Augenklappe die Beschränkung aufzuerlegen, welcher man ein Pferdsauge unterwirft, daß also die angebliche Vorkehrung nichts anderes sei, als ein Werk schwarzer Bosheit und phantastisch abgefeimter Tücke, ein Symbol, durch welches der Unhold den Bewohnern des Pfarrhauses von A . . . berg insinuiren wolle, daß sie aus dem Focus seines Blickes ausgeschlossen seien und sich nicht beigehen lassen dürften,<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0125]
konnte sich denken, daß der Vater jetzt zur Mutter hinabgehen werde, um sein gepreßtes, gekränktes Herz bei ihr auszuleeren.
Wilhelm konnte der Versüßung nicht widerstehen, sich zu vergewissern, wie der Pfarrer von Y . . . burg in der sonst von beiden Seiten jeden Morgen so sehnlich erwarteten Begrüßungsstunde sich verhalte.
Er holte daher das Fernrohr und blickte hinab.
Der Pfarrer von Y . . . burg stand so gleichmüthig wie immer an seinem Fenster und sah herauf, als wenn nichts vorgefallen wäre.
Bei näherer Recognoscirung entdeckte Wilhelm jedoch, daß der Wegelagerer an seinem Fernrohr eine sonderbare Vorrichtung angebracht hatte, welche an der einen Seite ein Stück weit über dasselbe hinausragte. Wilhelm sah genauer hin und zerbrach sich den Kopf; doch wurde er seiner Sache immer gewisser und konnte zuletzt nicht mehr zweifeln, daß es ein — Scheuleder war. Er hatte Verstand genug, um sich zu sagen, daß Niemand im Ernste daran denken könne, einem Fernrohr durch eine Augenklappe die Beschränkung aufzuerlegen, welcher man ein Pferdsauge unterwirft, daß also die angebliche Vorkehrung nichts anderes sei, als ein Werk schwarzer Bosheit und phantastisch abgefeimter Tücke, ein Symbol, durch welches der Unhold den Bewohnern des Pfarrhauses von A . . . berg insinuiren wolle, daß sie aus dem Focus seines Blickes ausgeschlossen seien und sich nicht beigehen lassen dürften,
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Zitationshilfe: | Kurz, Hermann: Die beiden Tubus. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 18. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 149–277. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kurz_tubus_1910/125>, abgerufen am 18.07.2024. |