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Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855.

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verloren finden, wenn sie oft auch tief wie Grubenmänner in die
Schachte unsrer Geschichte, unsrer Sprache, unsrer Dichtung sich zu
verlieren scheinen, von wo dieses Licht und Recht am reinsten zu
holen und nach dem Maße des heutigen Tages zu vertheilen ist.
Denn jetzt gilt es sich selbst zu verstehen in der allgemeinen Bewegung,
die schon mit wachsendem Getöse an die Pforten noch immer so vieler
Schläfer pocht. Die Bewegung, die aus einem Theil des Westens
kam, hat uns verwirren müssen, denn sie bot uns Eigenes mit Frem¬
dem gemischt. Die Bewegung, die sich aus einem Theil des Ostens
ankündigt, wird uns aufklären helfen, denn man lernt sich besser selbst
erkennen in einem Spiegel, der uns gar keine Aehnlichkeit zeigt,
sondern ein wildfremdes Gesicht. Dann wird der Kampf auch nicht
mehr verwandte Geister trennen, nicht mehr durch das einzelne Men¬
schenherz selbst hindurchgehen: die Scheidung zwischen dem Wahren und
dem Falschen, zwischen dem Guten und dem Bösen wird leichter sein.
Wer aus der allgemeinen Betrachtung, zu welcher jeder Tag so
vielen Anlaß gibt, zu der hier erzählten Volksgeschichte zurückkehrt und
vielleicht einmal, zufällig das freundliche Filsthal hinaufwandernd, nach
ihren Spuren fragt, der kann sich die Mühe und den Staub der Acten
ersparen, denn er findet in der Erzählung jeden Zug, der aufbe¬
wahrt geblieben ist. Und dennoch möge er nicht eine buchstäblich
wahre Geschichte in ihr suchen. Denn der geschichtliche Buchstabe ist
unwahr, so lange nicht der Geist ihn lebendig macht und in das ge¬
brochene rückstrahlende Licht des Gleichnisses stellt. Selbst das alte
Wirthshaus zur Sonne wird der Wanderer vergebens suchen, und da
ein solches Haus mit stattlichem Giebel nicht so leicht aus der Reihe
der Gegenstände verschwindet, so mag er vermuthen, daß er das Ebers¬
bach dieser Volksgeschichte anderswo zu suchen habe. Darin hat er
auch gewissermaßen Recht: der Flecken, der eine begabte Jugendkraft
nicht zu ihrer Entfaltung kommen ließ, erstreckte sich noch vor weit
kürzerer Zeit als vor hundert Jahren über ganz Deutschland und be¬
sonders über den Süden desselben, und der Berg unsres alten Reiches
mit seinem öden Gipfel wurde viel weiter im Umkreise gesehen als er
zwischen der Rems und Fils in die Landschaft ragt. Der Erzähler,
der aus Erfahrung weiß, daß alte Häuser nicht so schnell verschwinden
und daß alte Wahrzeichen von einer neuen Zeit nicht so leicht auszu¬

verloren finden, wenn ſie oft auch tief wie Grubenmänner in die
Schachte unſrer Geſchichte, unſrer Sprache, unſrer Dichtung ſich zu
verlieren ſcheinen, von wo dieſes Licht und Recht am reinſten zu
holen und nach dem Maße des heutigen Tages zu vertheilen iſt.
Denn jetzt gilt es ſich ſelbſt zu verſtehen in der allgemeinen Bewegung,
die ſchon mit wachſendem Getöſe an die Pforten noch immer ſo vieler
Schläfer pocht. Die Bewegung, die aus einem Theil des Weſtens
kam, hat uns verwirren müſſen, denn ſie bot uns Eigenes mit Frem¬
dem gemiſcht. Die Bewegung, die ſich aus einem Theil des Oſtens
ankündigt, wird uns aufklären helfen, denn man lernt ſich beſſer ſelbſt
erkennen in einem Spiegel, der uns gar keine Aehnlichkeit zeigt,
ſondern ein wildfremdes Geſicht. Dann wird der Kampf auch nicht
mehr verwandte Geiſter trennen, nicht mehr durch das einzelne Men¬
ſchenherz ſelbſt hindurchgehen: die Scheidung zwiſchen dem Wahren und
dem Falſchen, zwiſchen dem Guten und dem Böſen wird leichter ſein.
Wer aus der allgemeinen Betrachtung, zu welcher jeder Tag ſo
vielen Anlaß gibt, zu der hier erzählten Volksgeſchichte zurückkehrt und
vielleicht einmal, zufällig das freundliche Filsthal hinaufwandernd, nach
ihren Spuren fragt, der kann ſich die Mühe und den Staub der Acten
erſparen, denn er findet in der Erzählung jeden Zug, der aufbe¬
wahrt geblieben iſt. Und dennoch möge er nicht eine buchſtäblich
wahre Geſchichte in ihr ſuchen. Denn der geſchichtliche Buchſtabe iſt
unwahr, ſo lange nicht der Geiſt ihn lebendig macht und in das ge¬
brochene rückſtrahlende Licht des Gleichniſſes ſtellt. Selbſt das alte
Wirthshaus zur Sonne wird der Wanderer vergebens ſuchen, und da
ein ſolches Haus mit ſtattlichem Giebel nicht ſo leicht aus der Reihe
der Gegenſtände verſchwindet, ſo mag er vermuthen, daß er das Ebers¬
bach dieſer Volksgeſchichte anderswo zu ſuchen habe. Darin hat er
auch gewiſſermaßen Recht: der Flecken, der eine begabte Jugendkraft
nicht zu ihrer Entfaltung kommen ließ, erſtreckte ſich noch vor weit
kürzerer Zeit als vor hundert Jahren über ganz Deutſchland und be¬
ſonders über den Süden deſſelben, und der Berg unſres alten Reiches
mit ſeinem öden Gipfel wurde viel weiter im Umkreiſe geſehen als er
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der aus Erfahrung weiß, daß alte Häuſer nicht ſo ſchnell verſchwinden
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[501/0517] verloren finden, wenn ſie oft auch tief wie Grubenmänner in die Schachte unſrer Geſchichte, unſrer Sprache, unſrer Dichtung ſich zu verlieren ſcheinen, von wo dieſes Licht und Recht am reinſten zu holen und nach dem Maße des heutigen Tages zu vertheilen iſt. Denn jetzt gilt es ſich ſelbſt zu verſtehen in der allgemeinen Bewegung, die ſchon mit wachſendem Getöſe an die Pforten noch immer ſo vieler Schläfer pocht. Die Bewegung, die aus einem Theil des Weſtens kam, hat uns verwirren müſſen, denn ſie bot uns Eigenes mit Frem¬ dem gemiſcht. Die Bewegung, die ſich aus einem Theil des Oſtens ankündigt, wird uns aufklären helfen, denn man lernt ſich beſſer ſelbſt erkennen in einem Spiegel, der uns gar keine Aehnlichkeit zeigt, ſondern ein wildfremdes Geſicht. Dann wird der Kampf auch nicht mehr verwandte Geiſter trennen, nicht mehr durch das einzelne Men¬ ſchenherz ſelbſt hindurchgehen: die Scheidung zwiſchen dem Wahren und dem Falſchen, zwiſchen dem Guten und dem Böſen wird leichter ſein. Wer aus der allgemeinen Betrachtung, zu welcher jeder Tag ſo vielen Anlaß gibt, zu der hier erzählten Volksgeſchichte zurückkehrt und vielleicht einmal, zufällig das freundliche Filsthal hinaufwandernd, nach ihren Spuren fragt, der kann ſich die Mühe und den Staub der Acten erſparen, denn er findet in der Erzählung jeden Zug, der aufbe¬ wahrt geblieben iſt. Und dennoch möge er nicht eine buchſtäblich wahre Geſchichte in ihr ſuchen. Denn der geſchichtliche Buchſtabe iſt unwahr, ſo lange nicht der Geiſt ihn lebendig macht und in das ge¬ brochene rückſtrahlende Licht des Gleichniſſes ſtellt. Selbſt das alte Wirthshaus zur Sonne wird der Wanderer vergebens ſuchen, und da ein ſolches Haus mit ſtattlichem Giebel nicht ſo leicht aus der Reihe der Gegenſtände verſchwindet, ſo mag er vermuthen, daß er das Ebers¬ bach dieſer Volksgeſchichte anderswo zu ſuchen habe. Darin hat er auch gewiſſermaßen Recht: der Flecken, der eine begabte Jugendkraft nicht zu ihrer Entfaltung kommen ließ, erſtreckte ſich noch vor weit kürzerer Zeit als vor hundert Jahren über ganz Deutſchland und be¬ ſonders über den Süden deſſelben, und der Berg unſres alten Reiches mit ſeinem öden Gipfel wurde viel weiter im Umkreiſe geſehen als er zwiſchen der Rems und Fils in die Landſchaft ragt. Der Erzähler, der aus Erfahrung weiß, daß alte Häuſer nicht ſo ſchnell verſchwinden und daß alte Wahrzeichen von einer neuen Zeit nicht ſo leicht auszu¬

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Zitationshilfe: Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855, S. 501. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kurz_sonnenwirth_1855/517>, abgerufen am 21.11.2024.