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Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855.

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hinterließ, und hierin liegt die Bürgschaft, daß ihn, wenn auch unter
menschlichen Schwächen, die reine Absicht leitete, die Jugend künftiger
Tage vor seinem Loose zu bewahren. Seine Blätter enthalten nichts
von seiner inneren Lebensführung, nichts von dem Gange seiner Seele
durch die Stürme des Lebens, aus Tag in Nacht; denn dies war
kein Gegenstand für seine Obrigkeit. Wohl aber darf die Nachwelt,
die sich an der Geschichte eines rohen Mannes aus dem Volke oft
besser belehren könnte als an verwickelten Staats- und Fürstengeschich¬
ten, wohl darf sie den Pfarrer seiner Heimath anklagen, daß er, dem
die Pflege der Geister vertraut war, keine Chronik seiner Gemeinde,
keine Aufzeichnung über den Lebensgang des Jünglings hinterlassen hat,
der, nach dem Zeugniß befähigter Zeitgenossen, außerordentliche Gaben
des Geistes und Herzens besaß, keine Rechtfertigung der mit mehr
als väterlicher Gewalt ausgerüsteten geistlichen und weltlichen Be¬
hörde, wie es kommen konnte, daß ein solcher Mensch aus dem Schoße
der Gesellschaft heraus so tief in Elend, Verbrechen, Schmach und
jede Erniedrigung der Seele stürzte. Und doch hat jener Pfar¬
rer sein ganzes Lebensschicksal mit angesehen und hat ihn lange über¬
lebt. Er fand nichts aufzuzeichnen nöthig als die karge, schauerliche
Randbemerkung, die er auf einem Blatte des Taufbuches, wo der Name
des am 4. Juni 1729 gebornen Kindes Friedrich Schwan nebst den
Namen seiner Eltern und Taufpathen eingetragen ist, mit rother Dinte
hinzugeschrieben hat: "Wurde den 30. Juli 1760 zu Vaihingen le¬
bendig auf das Rad gelegt. Gott sei seiner armen Seele gnädig!"

Das war die Todesstrafe, die ein christlicher Staat unter dem
Beistande einer christlichen Kirche an einem Menschenbilde, das sie
Gottes Ebenbild nannten, vollzog, indem er sich für so arm an leib¬
lichen und geistigen Mitteln bekannte, daß er mit einem wenn auch
noch so tief gefallenen Menschen nichts Menschlicheres, nichts Christ¬
licheres zu thun wußte als ihm das Leben zu rauben, und für so
beschränkt in Menschenkenntnis daß er meinte, durch eine recht ausge¬
sucht grausame Strafe werde er Andere vom Wege des Verbrechens
abschrecken. Und doch hätte gerade dieser ihn vor tausend Andern be¬
lehren können, wie irrig eine solche Voraussetzung ist. Er war vor
Andern mit Verstand begabt, um sich zu sagen, wohin sein Leben zu¬
letzt führen müsse, und wenn er es je vergessen hätte, so sagten es ihm

hinterließ, und hierin liegt die Bürgſchaft, daß ihn, wenn auch unter
menſchlichen Schwächen, die reine Abſicht leitete, die Jugend künftiger
Tage vor ſeinem Looſe zu bewahren. Seine Blätter enthalten nichts
von ſeiner inneren Lebensführung, nichts von dem Gange ſeiner Seele
durch die Stürme des Lebens, aus Tag in Nacht; denn dies war
kein Gegenſtand für ſeine Obrigkeit. Wohl aber darf die Nachwelt,
die ſich an der Geſchichte eines rohen Mannes aus dem Volke oft
beſſer belehren könnte als an verwickelten Staats- und Fürſtengeſchich¬
ten, wohl darf ſie den Pfarrer ſeiner Heimath anklagen, daß er, dem
die Pflege der Geiſter vertraut war, keine Chronik ſeiner Gemeinde,
keine Aufzeichnung über den Lebensgang des Jünglings hinterlaſſen hat,
der, nach dem Zeugniß befähigter Zeitgenoſſen, außerordentliche Gaben
des Geiſtes und Herzens beſaß, keine Rechtfertigung der mit mehr
als väterlicher Gewalt ausgerüſteten geiſtlichen und weltlichen Be¬
hörde, wie es kommen konnte, daß ein ſolcher Menſch aus dem Schoße
der Geſellſchaft heraus ſo tief in Elend, Verbrechen, Schmach und
jede Erniedrigung der Seele ſtürzte. Und doch hat jener Pfar¬
rer ſein ganzes Lebensſchickſal mit angeſehen und hat ihn lange über¬
lebt. Er fand nichts aufzuzeichnen nöthig als die karge, ſchauerliche
Randbemerkung, die er auf einem Blatte des Taufbuches, wo der Name
des am 4. Juni 1729 gebornen Kindes Friedrich Schwan nebſt den
Namen ſeiner Eltern und Taufpathen eingetragen iſt, mit rother Dinte
hinzugeſchrieben hat: „Wurde den 30. Juli 1760 zu Vaihingen le¬
bendig auf das Rad gelegt. Gott ſei ſeiner armen Seele gnädig!“

Das war die Todesſtrafe, die ein chriſtlicher Staat unter dem
Beiſtande einer chriſtlichen Kirche an einem Menſchenbilde, das ſie
Gottes Ebenbild nannten, vollzog, indem er ſich für ſo arm an leib¬
lichen und geiſtigen Mitteln bekannte, daß er mit einem wenn auch
noch ſo tief gefallenen Menſchen nichts Menſchlicheres, nichts Chriſt¬
licheres zu thun wußte als ihm das Leben zu rauben, und für ſo
beſchränkt in Menſchenkenntnis daß er meinte, durch eine recht ausge¬
ſucht grauſame Strafe werde er Andere vom Wege des Verbrechens
abſchrecken. Und doch hätte gerade dieſer ihn vor tauſend Andern be¬
lehren können, wie irrig eine ſolche Vorausſetzung iſt. Er war vor
Andern mit Verſtand begabt, um ſich zu ſagen, wohin ſein Leben zu¬
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[499/0515] hinterließ, und hierin liegt die Bürgſchaft, daß ihn, wenn auch unter menſchlichen Schwächen, die reine Abſicht leitete, die Jugend künftiger Tage vor ſeinem Looſe zu bewahren. Seine Blätter enthalten nichts von ſeiner inneren Lebensführung, nichts von dem Gange ſeiner Seele durch die Stürme des Lebens, aus Tag in Nacht; denn dies war kein Gegenſtand für ſeine Obrigkeit. Wohl aber darf die Nachwelt, die ſich an der Geſchichte eines rohen Mannes aus dem Volke oft beſſer belehren könnte als an verwickelten Staats- und Fürſtengeſchich¬ ten, wohl darf ſie den Pfarrer ſeiner Heimath anklagen, daß er, dem die Pflege der Geiſter vertraut war, keine Chronik ſeiner Gemeinde, keine Aufzeichnung über den Lebensgang des Jünglings hinterlaſſen hat, der, nach dem Zeugniß befähigter Zeitgenoſſen, außerordentliche Gaben des Geiſtes und Herzens beſaß, keine Rechtfertigung der mit mehr als väterlicher Gewalt ausgerüſteten geiſtlichen und weltlichen Be¬ hörde, wie es kommen konnte, daß ein ſolcher Menſch aus dem Schoße der Geſellſchaft heraus ſo tief in Elend, Verbrechen, Schmach und jede Erniedrigung der Seele ſtürzte. Und doch hat jener Pfar¬ rer ſein ganzes Lebensſchickſal mit angeſehen und hat ihn lange über¬ lebt. Er fand nichts aufzuzeichnen nöthig als die karge, ſchauerliche Randbemerkung, die er auf einem Blatte des Taufbuches, wo der Name des am 4. Juni 1729 gebornen Kindes Friedrich Schwan nebſt den Namen ſeiner Eltern und Taufpathen eingetragen iſt, mit rother Dinte hinzugeſchrieben hat: „Wurde den 30. Juli 1760 zu Vaihingen le¬ bendig auf das Rad gelegt. Gott ſei ſeiner armen Seele gnädig!“ Das war die Todesſtrafe, die ein chriſtlicher Staat unter dem Beiſtande einer chriſtlichen Kirche an einem Menſchenbilde, das ſie Gottes Ebenbild nannten, vollzog, indem er ſich für ſo arm an leib¬ lichen und geiſtigen Mitteln bekannte, daß er mit einem wenn auch noch ſo tief gefallenen Menſchen nichts Menſchlicheres, nichts Chriſt¬ licheres zu thun wußte als ihm das Leben zu rauben, und für ſo beſchränkt in Menſchenkenntnis daß er meinte, durch eine recht ausge¬ ſucht grauſame Strafe werde er Andere vom Wege des Verbrechens abſchrecken. Und doch hätte gerade dieſer ihn vor tauſend Andern be¬ lehren können, wie irrig eine ſolche Vorausſetzung iſt. Er war vor Andern mit Verſtand begabt, um ſich zu ſagen, wohin ſein Leben zu¬ letzt führen müſſe, und wenn er es je vergeſſen hätte, ſo ſagten es ihm

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Zitationshilfe: Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855, S. 499. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kurz_sonnenwirth_1855/515>, abgerufen am 05.05.2024.