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Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855.

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Freudigkeit ziemlich, weil ihn, wie er selbst sagte, die zu große Menge
von geistlichen Zusprüchen betrübt und zerstreut hatte; doch kehrte sie
Abends wieder zurück. Endlich erschien der letzte Tag. Morgens früh
um fünf Uhr kam Krippendorf zu ihm, und traf ihn im Gebet an. Er
sah frisch und munter aus; dennoch hielt er, weil seine Seele nicht so
hochgeschwungen und furchtlos wie gestern war, sich selbst für verstockt,
ein Gefühl, welches jedoch durch Hilfe des Gebets sich bald wieder verlor."
So erfuhr auch dieser Geist, was jeder Geist in seinem Ringen
nach Klarheit erfährt, daß die Seele den gewaltsam ergriffenen Besitz nicht
ungestört festzuhalten vermag, daß ihr die Stunden räuberisch in das
Gut einbrechen, das sie schon sicher geborgen zu haben glaubte. Denn
die Seele des Menschen rollt beweglich mit seiner großen Mutter
dahin, die, wie uns die Himmelskundigen in ihrer Sprache gelehrt
haben, in beständiger Revolution begriffen ist. Sie faßt, im Gebiet
des Geistes umherspürend, einen Gedanken, eine Wahrheit, eine Er¬
kenntniß, die ihr plötzlich in blendendem Lichte auftaucht, und will
in alle Welt hinein jubeln, jetzt sei die Wurzel gefunden, die alles
Verschlossene aufsprengen, alles Kranke heilen müsse. Aber die Stun¬
den bringen und nehmen. Andere Erkenntnisse, andere Wahrheiten
oder Irrthümer drängen sich in die Seele ein und verdunkeln das
erste Licht, und was die Seele festzuhalten glaubte, das wird ihr
so blaß und farblos, daß sie sich ermattet, bangend, zweifelnd davon
abwendet. Wieder erscheint jene geistige Gestalt vom Lichte der Er¬
leuchtung begleitet, sie zeigt sich der Seele von einer neuen Seite, und die
Hoffnung, der Glaube an die Sicherheit des Besitzes wächst. Aber
Licht und Schatten wechseln, die Sehnsucht wird zur wilden Glut, die
das reine Licht der wahrheitsuchenden Seele mit Qualm verdüstert,
und so zwischen Licht und Schatten, zwischen Glauben und Zweifel,
zwischen Höhe und Tiefe dahinschwebend, gelangt die Seele unter im¬
mer neuen Erleuchtungen zu der Ueberzeugung, daß das erste Licht
das richtige gewesen sei, zur Gewißheit, daß die reine Wahrheit darin
wohne. Aber die Ueberzeugung des Menschen, besonders wenn er sie
mit Heftigkeit ergriffen hat, wäre für ihn selbst nicht echt, wenn er
sie seinen Brüdern vorenthielte; denn weit leichter als seine Herzens-
oder Vorrathskammer thut er ihnen die Schatzkammer seines Wissens
oder Glaubens auf. Aber seine Brüder haben dasselbe erlebt, wie er,

D. B. IV. Kurz, Sonnenwirth. 32

Freudigkeit ziemlich, weil ihn, wie er ſelbſt ſagte, die zu große Menge
von geiſtlichen Zuſprüchen betrübt und zerſtreut hatte; doch kehrte ſie
Abends wieder zurück. Endlich erſchien der letzte Tag. Morgens früh
um fünf Uhr kam Krippendorf zu ihm, und traf ihn im Gebet an. Er
ſah friſch und munter aus; dennoch hielt er, weil ſeine Seele nicht ſo
hochgeſchwungen und furchtlos wie geſtern war, ſich ſelbſt für verſtockt,
ein Gefühl, welches jedoch durch Hilfe des Gebets ſich bald wieder verlor.“
So erfuhr auch dieſer Geiſt, was jeder Geiſt in ſeinem Ringen
nach Klarheit erfährt, daß die Seele den gewaltſam ergriffenen Beſitz nicht
ungeſtört feſtzuhalten vermag, daß ihr die Stunden räuberiſch in das
Gut einbrechen, das ſie ſchon ſicher geborgen zu haben glaubte. Denn
die Seele des Menſchen rollt beweglich mit ſeiner großen Mutter
dahin, die, wie uns die Himmelskundigen in ihrer Sprache gelehrt
haben, in beſtändiger Revolution begriffen iſt. Sie faßt, im Gebiet
des Geiſtes umherſpürend, einen Gedanken, eine Wahrheit, eine Er¬
kenntniß, die ihr plötzlich in blendendem Lichte auftaucht, und will
in alle Welt hinein jubeln, jetzt ſei die Wurzel gefunden, die alles
Verſchloſſene aufſprengen, alles Kranke heilen müſſe. Aber die Stun¬
den bringen und nehmen. Andere Erkenntniſſe, andere Wahrheiten
oder Irrthümer drängen ſich in die Seele ein und verdunkeln das
erſte Licht, und was die Seele feſtzuhalten glaubte, das wird ihr
ſo blaß und farblos, daß ſie ſich ermattet, bangend, zweifelnd davon
abwendet. Wieder erſcheint jene geiſtige Geſtalt vom Lichte der Er¬
leuchtung begleitet, ſie zeigt ſich der Seele von einer neuen Seite, und die
Hoffnung, der Glaube an die Sicherheit des Beſitzes wächſt. Aber
Licht und Schatten wechſeln, die Sehnſucht wird zur wilden Glut, die
das reine Licht der wahrheitſuchenden Seele mit Qualm verdüſtert,
und ſo zwiſchen Licht und Schatten, zwiſchen Glauben und Zweifel,
zwiſchen Höhe und Tiefe dahinſchwebend, gelangt die Seele unter im¬
mer neuen Erleuchtungen zu der Ueberzeugung, daß das erſte Licht
das richtige geweſen ſei, zur Gewißheit, daß die reine Wahrheit darin
wohne. Aber die Ueberzeugung des Menſchen, beſonders wenn er ſie
mit Heftigkeit ergriffen hat, wäre für ihn ſelbſt nicht echt, wenn er
ſie ſeinen Brüdern vorenthielte; denn weit leichter als ſeine Herzens-
oder Vorrathskammer thut er ihnen die Schatzkammer ſeines Wiſſens
oder Glaubens auf. Aber ſeine Brüder haben daſſelbe erlebt, wie er,

D. B. IV. Kurz, Sonnenwirth. 32
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[497/0513] Freudigkeit ziemlich, weil ihn, wie er ſelbſt ſagte, die zu große Menge von geiſtlichen Zuſprüchen betrübt und zerſtreut hatte; doch kehrte ſie Abends wieder zurück. Endlich erſchien der letzte Tag. Morgens früh um fünf Uhr kam Krippendorf zu ihm, und traf ihn im Gebet an. Er ſah friſch und munter aus; dennoch hielt er, weil ſeine Seele nicht ſo hochgeſchwungen und furchtlos wie geſtern war, ſich ſelbſt für verſtockt, ein Gefühl, welches jedoch durch Hilfe des Gebets ſich bald wieder verlor.“ So erfuhr auch dieſer Geiſt, was jeder Geiſt in ſeinem Ringen nach Klarheit erfährt, daß die Seele den gewaltſam ergriffenen Beſitz nicht ungeſtört feſtzuhalten vermag, daß ihr die Stunden räuberiſch in das Gut einbrechen, das ſie ſchon ſicher geborgen zu haben glaubte. Denn die Seele des Menſchen rollt beweglich mit ſeiner großen Mutter dahin, die, wie uns die Himmelskundigen in ihrer Sprache gelehrt haben, in beſtändiger Revolution begriffen iſt. Sie faßt, im Gebiet des Geiſtes umherſpürend, einen Gedanken, eine Wahrheit, eine Er¬ kenntniß, die ihr plötzlich in blendendem Lichte auftaucht, und will in alle Welt hinein jubeln, jetzt ſei die Wurzel gefunden, die alles Verſchloſſene aufſprengen, alles Kranke heilen müſſe. Aber die Stun¬ den bringen und nehmen. Andere Erkenntniſſe, andere Wahrheiten oder Irrthümer drängen ſich in die Seele ein und verdunkeln das erſte Licht, und was die Seele feſtzuhalten glaubte, das wird ihr ſo blaß und farblos, daß ſie ſich ermattet, bangend, zweifelnd davon abwendet. Wieder erſcheint jene geiſtige Geſtalt vom Lichte der Er¬ leuchtung begleitet, ſie zeigt ſich der Seele von einer neuen Seite, und die Hoffnung, der Glaube an die Sicherheit des Beſitzes wächſt. Aber Licht und Schatten wechſeln, die Sehnſucht wird zur wilden Glut, die das reine Licht der wahrheitſuchenden Seele mit Qualm verdüſtert, und ſo zwiſchen Licht und Schatten, zwiſchen Glauben und Zweifel, zwiſchen Höhe und Tiefe dahinſchwebend, gelangt die Seele unter im¬ mer neuen Erleuchtungen zu der Ueberzeugung, daß das erſte Licht das richtige geweſen ſei, zur Gewißheit, daß die reine Wahrheit darin wohne. Aber die Ueberzeugung des Menſchen, beſonders wenn er ſie mit Heftigkeit ergriffen hat, wäre für ihn ſelbſt nicht echt, wenn er ſie ſeinen Brüdern vorenthielte; denn weit leichter als ſeine Herzens- oder Vorrathskammer thut er ihnen die Schatzkammer ſeines Wiſſens oder Glaubens auf. Aber ſeine Brüder haben daſſelbe erlebt, wie er, D. B. IV. Kurz, Sonnenwirth. 32

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Zitationshilfe: Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855, S. 497. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kurz_sonnenwirth_1855/513>, abgerufen am 06.05.2024.