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Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855.

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daß die Religion mit der dem Leben zugekehrten Vorschrift der Liebe
die Menschen an einander bindet oder binden sollte. Daß sie nach
vollbrachter Religionsübung sich mit ihrer Religion abfinden und dieselbe
in den menschlichen Verkehr nicht mitbringen, können sie einander
von beiden Seiten mit gleichem Recht vorwerfen; nur wird, die gleiche
Innigkeit des Bekenntnisses bei den Einzelnen vorausgesetzt, die Ab¬
findung bei dem strengeren Bekenntnisse schwerer sein. Und doch finden
sich hüben wie drüben bis zu einer gewissen Grenze Alle ab: denn
wer befolgt die Vorschrift des Evangeliums, Alles zu verkaufen, was
er hat, und es den Armen zu geben, oder nie für den kommenden
Tag zu sorgen? Wer Rechtsverbindlichkeiten eingegangen hat, wer
Weib und Kind ernähren muß, wird, wenn er auch noch so kirchlich
religiös gesinnt ist, sich mehr oder minder deutlich gestehen, daß er
solche Vorschriften als unerfüllbar betrachte. Dann bleibt zwar aller¬
dings noch immer ein sehr großer Unterschied zwischen ihm und einer
Jaunerin, die das Geld zu einer Wallfahrt stiehlt, oder, wie eine
Andere ihres Ordens, ein berühmtes Marienbild von gestohlenem
Zeuge kleiden, oder gar, wie gleichfalls vorgekommen ist, für das
Gelingen eines Einbruchs eine Messe lesen läßt; aber die Nichtan¬
wendung wie die nichtswürdige Anwendung von Religionsvorschriften
auf das Leben ist immer eine Abfindung, mit welcher man bekennt, daß
die Religion das Leben nicht ganz zu leiten vermöge. Woher soll ihm
aber eine ganze Leitung kommen, so lang es an einem Rechte fehlt,
das Jedem seinen Platz am Tische des Lebens sichert? Die Religion
hat noch selten einen christlichen Staat oder Fürsten abgehalten, um
eines wirklichen oder vermeintlichen Rechtes willen einem anderen Menschen¬
oder Christenreiche den Krieg zu erklären und selbst mit Grausamkeit zu
führen, ja nach erfochtenem Sieg über blutigen Leichen und rauchenden
Wohnstätten dem Herrn der Heerschaaren, den dieselbe Religion auch den
Vater der Liebe nennt, einen schrecklichen Lobgesang anzustimmen.
Auf ein Recht aber glaubte auch die Tochter eines heimathlosen Stam¬
mes sich berufen zu können, die über den Gräbern ihrer geschlachteten Ver¬
wandten im Kriege mit der Gesellschaft aufgewachsen war, und diesen
Krieg mit dem gleichen Hasse führte, mit welchem ein Naturvolk seine
Wälder und Gebirge unter Raub und Mord gegen die Waffen und
Gesetze des eingeborenen oder eingedrungenen Beherrschers zu behaupten

daß die Religion mit der dem Leben zugekehrten Vorſchrift der Liebe
die Menſchen an einander bindet oder binden ſollte. Daß ſie nach
vollbrachter Religionsübung ſich mit ihrer Religion abfinden und dieſelbe
in den menſchlichen Verkehr nicht mitbringen, können ſie einander
von beiden Seiten mit gleichem Recht vorwerfen; nur wird, die gleiche
Innigkeit des Bekenntniſſes bei den Einzelnen vorausgeſetzt, die Ab¬
findung bei dem ſtrengeren Bekenntniſſe ſchwerer ſein. Und doch finden
ſich hüben wie drüben bis zu einer gewiſſen Grenze Alle ab: denn
wer befolgt die Vorſchrift des Evangeliums, Alles zu verkaufen, was
er hat, und es den Armen zu geben, oder nie für den kommenden
Tag zu ſorgen? Wer Rechtsverbindlichkeiten eingegangen hat, wer
Weib und Kind ernähren muß, wird, wenn er auch noch ſo kirchlich
religiös geſinnt iſt, ſich mehr oder minder deutlich geſtehen, daß er
ſolche Vorſchriften als unerfüllbar betrachte. Dann bleibt zwar aller¬
dings noch immer ein ſehr großer Unterſchied zwiſchen ihm und einer
Jaunerin, die das Geld zu einer Wallfahrt ſtiehlt, oder, wie eine
Andere ihres Ordens, ein berühmtes Marienbild von geſtohlenem
Zeuge kleiden, oder gar, wie gleichfalls vorgekommen iſt, für das
Gelingen eines Einbruchs eine Meſſe leſen läßt; aber die Nichtan¬
wendung wie die nichtswürdige Anwendung von Religionsvorſchriften
auf das Leben iſt immer eine Abfindung, mit welcher man bekennt, daß
die Religion das Leben nicht ganz zu leiten vermöge. Woher ſoll ihm
aber eine ganze Leitung kommen, ſo lang es an einem Rechte fehlt,
das Jedem ſeinen Platz am Tiſche des Lebens ſichert? Die Religion
hat noch ſelten einen chriſtlichen Staat oder Fürſten abgehalten, um
eines wirklichen oder vermeintlichen Rechtes willen einem anderen Menſchen¬
oder Chriſtenreiche den Krieg zu erklären und ſelbſt mit Grauſamkeit zu
führen, ja nach erfochtenem Sieg über blutigen Leichen und rauchenden
Wohnſtätten dem Herrn der Heerſchaaren, den dieſelbe Religion auch den
Vater der Liebe nennt, einen ſchrecklichen Lobgeſang anzuſtimmen.
Auf ein Recht aber glaubte auch die Tochter eines heimathloſen Stam¬
mes ſich berufen zu können, die über den Gräbern ihrer geſchlachteten Ver¬
wandten im Kriege mit der Geſellſchaft aufgewachſen war, und dieſen
Krieg mit dem gleichen Haſſe führte, mit welchem ein Naturvolk ſeine
Wälder und Gebirge unter Raub und Mord gegen die Waffen und
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[461/0477] daß die Religion mit der dem Leben zugekehrten Vorſchrift der Liebe die Menſchen an einander bindet oder binden ſollte. Daß ſie nach vollbrachter Religionsübung ſich mit ihrer Religion abfinden und dieſelbe in den menſchlichen Verkehr nicht mitbringen, können ſie einander von beiden Seiten mit gleichem Recht vorwerfen; nur wird, die gleiche Innigkeit des Bekenntniſſes bei den Einzelnen vorausgeſetzt, die Ab¬ findung bei dem ſtrengeren Bekenntniſſe ſchwerer ſein. Und doch finden ſich hüben wie drüben bis zu einer gewiſſen Grenze Alle ab: denn wer befolgt die Vorſchrift des Evangeliums, Alles zu verkaufen, was er hat, und es den Armen zu geben, oder nie für den kommenden Tag zu ſorgen? Wer Rechtsverbindlichkeiten eingegangen hat, wer Weib und Kind ernähren muß, wird, wenn er auch noch ſo kirchlich religiös geſinnt iſt, ſich mehr oder minder deutlich geſtehen, daß er ſolche Vorſchriften als unerfüllbar betrachte. Dann bleibt zwar aller¬ dings noch immer ein ſehr großer Unterſchied zwiſchen ihm und einer Jaunerin, die das Geld zu einer Wallfahrt ſtiehlt, oder, wie eine Andere ihres Ordens, ein berühmtes Marienbild von geſtohlenem Zeuge kleiden, oder gar, wie gleichfalls vorgekommen iſt, für das Gelingen eines Einbruchs eine Meſſe leſen läßt; aber die Nichtan¬ wendung wie die nichtswürdige Anwendung von Religionsvorſchriften auf das Leben iſt immer eine Abfindung, mit welcher man bekennt, daß die Religion das Leben nicht ganz zu leiten vermöge. Woher ſoll ihm aber eine ganze Leitung kommen, ſo lang es an einem Rechte fehlt, das Jedem ſeinen Platz am Tiſche des Lebens ſichert? Die Religion hat noch ſelten einen chriſtlichen Staat oder Fürſten abgehalten, um eines wirklichen oder vermeintlichen Rechtes willen einem anderen Menſchen¬ oder Chriſtenreiche den Krieg zu erklären und ſelbſt mit Grauſamkeit zu führen, ja nach erfochtenem Sieg über blutigen Leichen und rauchenden Wohnſtätten dem Herrn der Heerſchaaren, den dieſelbe Religion auch den Vater der Liebe nennt, einen ſchrecklichen Lobgeſang anzuſtimmen. Auf ein Recht aber glaubte auch die Tochter eines heimathloſen Stam¬ mes ſich berufen zu können, die über den Gräbern ihrer geſchlachteten Ver¬ wandten im Kriege mit der Geſellſchaft aufgewachſen war, und dieſen Krieg mit dem gleichen Haſſe führte, mit welchem ein Naturvolk ſeine Wälder und Gebirge unter Raub und Mord gegen die Waffen und Geſetze des eingeborenen oder eingedrungenen Beherrſchers zu behaupten

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Zitationshilfe: Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855, S. 461. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kurz_sonnenwirth_1855/477>, abgerufen am 22.11.2024.