Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855.

Bild:
<< vorherige Seite

Menschen, der so oft das feindliche Werkzeug gegen ihn abgegeben,
der vor wenigen Stunden noch aus Haß und Geldgier seine Kugel
auf ihn abgeschossen hatte. In diesem unbedeutenden Menschen sah
er Alle versammelt, die ihn gedrückt, die ihn aus dem Geleise gedrängt
und endlich von der Bahn seiner rechtmäßigen Ansprüche hinabgestoßen hatten.

Er sah die feige Unredlichkeit an der Tafel des Lebens schmausen und
sich selbst in die Wildniß hinausgestoßen. Und waren die Unschuldigen,
welche seiner rettungslosen Verzweiflung noch zum Opfer fallen sollten,
von welchen Einer bereits den Reigen begonnen hatte, waren sie nicht
eines Schuldopfers werth? Hier stand Einer seiner Kugel preisgegeben,
der sich über und über mit Schuld an ihm bedeckt hatte. Wenn der
Weg des Verbrechens, wie auch der rohe und verworren denkende Mensch
sich wünscht, durch den Gedanken der Rache an der ungerechten Ge¬
sellschaft eine gewisse Weihe erhalten sollte, so winkte ihm hier an der
Pforte der Hölle eine Rachethat, bei welcher er sich, um Recht und
Gerechtigkeit betrogen, so hoch berechtigt fühlte, Richter in eigener
Sache zu sein, daß er sein neues Leben nicht besser einweihen zu können
meinte. Warum zögerte sein Finger am Drücker?

Viermal zielte er und viermal setzte er wieder ab.

Der Mensch, wer er auch sei, trifft Stunden in seinem Leben, wo
er tief in sich blicken kann und gewahr wird, daß eine Stimme des
Wahnsinns in ihm schlummert, die zu Zeiten erwacht. Es steht Einer
im Gebirge an einer jähen, schwindelnden Felsenwand, da taucht plötz¬
lich die Stimme in ihm auf und sagt ihm: Spring' da hinab.
Oder er hat einen Freund bei sich, der ihm nie etwas zu Leid gethan,
der sich ihm als feuerfest erwiesen hat; die Stimme sagt: Gib ihm
einen Stoß, daß er hinunter fliegt. Die menschliche Gesellschaft, die
für ihren Bestand zu sorgen hat, macht mit Recht den Menschen ver¬
antwortlich, damit er dieser Stimme nicht gehorcht. Wer in seiner
gesunden Kraft wandelt, der kämpft sie leicht nieder und lächelt über
sie, wie der Mensch über die Sprünge seines thierischen Zerrbildes
lächelt. Wo aber Leidenschaft, wo Haß und Rache die Stimme
beflügeln, da wird der Kampf schwerer. Und doch wird Jeder,
der in den dunkelsten Stunden seines Lebens sein menschlich Theil
gerettet oder verloren hat, Zeugniß geben, daß eine innere Bewegung
mit der Gewalt einer unsichtbaren Macht eingegriffen und seiner Hand

Menſchen, der ſo oft das feindliche Werkzeug gegen ihn abgegeben,
der vor wenigen Stunden noch aus Haß und Geldgier ſeine Kugel
auf ihn abgeſchoſſen hatte. In dieſem unbedeutenden Menſchen ſah
er Alle verſammelt, die ihn gedrückt, die ihn aus dem Geleiſe gedrängt
und endlich von der Bahn ſeiner rechtmäßigen Anſprüche hinabgeſtoßen hatten.

Er ſah die feige Unredlichkeit an der Tafel des Lebens ſchmauſen und
ſich ſelbſt in die Wildniß hinausgeſtoßen. Und waren die Unſchuldigen,
welche ſeiner rettungsloſen Verzweiflung noch zum Opfer fallen ſollten,
von welchen Einer bereits den Reigen begonnen hatte, waren ſie nicht
eines Schuldopfers werth? Hier ſtand Einer ſeiner Kugel preisgegeben,
der ſich über und über mit Schuld an ihm bedeckt hatte. Wenn der
Weg des Verbrechens, wie auch der rohe und verworren denkende Menſch
ſich wünſcht, durch den Gedanken der Rache an der ungerechten Ge¬
ſellſchaft eine gewiſſe Weihe erhalten ſollte, ſo winkte ihm hier an der
Pforte der Hölle eine Rachethat, bei welcher er ſich, um Recht und
Gerechtigkeit betrogen, ſo hoch berechtigt fühlte, Richter in eigener
Sache zu ſein, daß er ſein neues Leben nicht beſſer einweihen zu können
meinte. Warum zögerte ſein Finger am Drücker?

Viermal zielte er und viermal ſetzte er wieder ab.

Der Menſch, wer er auch ſei, trifft Stunden in ſeinem Leben, wo
er tief in ſich blicken kann und gewahr wird, daß eine Stimme des
Wahnſinns in ihm ſchlummert, die zu Zeiten erwacht. Es ſteht Einer
im Gebirge an einer jähen, ſchwindelnden Felſenwand, da taucht plötz¬
lich die Stimme in ihm auf und ſagt ihm: Spring' da hinab.
Oder er hat einen Freund bei ſich, der ihm nie etwas zu Leid gethan,
der ſich ihm als feuerfeſt erwieſen hat; die Stimme ſagt: Gib ihm
einen Stoß, daß er hinunter fliegt. Die menſchliche Geſellſchaft, die
für ihren Beſtand zu ſorgen hat, macht mit Recht den Menſchen ver¬
antwortlich, damit er dieſer Stimme nicht gehorcht. Wer in ſeiner
geſunden Kraft wandelt, der kämpft ſie leicht nieder und lächelt über
ſie, wie der Menſch über die Sprünge ſeines thieriſchen Zerrbildes
lächelt. Wo aber Leidenſchaft, wo Haß und Rache die Stimme
beflügeln, da wird der Kampf ſchwerer. Und doch wird Jeder,
der in den dunkelſten Stunden ſeines Lebens ſein menſchlich Theil
gerettet oder verloren hat, Zeugniß geben, daß eine innere Bewegung
mit der Gewalt einer unſichtbaren Macht eingegriffen und ſeiner Hand

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0453" n="437"/>
Men&#x017F;chen, der &#x017F;o oft das feindliche Werkzeug gegen ihn abgegeben,<lb/>
der vor wenigen Stunden noch aus Haß und Geldgier &#x017F;eine Kugel<lb/>
auf ihn abge&#x017F;cho&#x017F;&#x017F;en hatte. In die&#x017F;em unbedeutenden Men&#x017F;chen &#x017F;ah<lb/>
er Alle ver&#x017F;ammelt, die ihn gedrückt, die ihn aus dem Gelei&#x017F;e gedrängt<lb/>
und endlich von der Bahn &#x017F;einer rechtmäßigen An&#x017F;prüche hinabge&#x017F;toßen hatten.</p><lb/>
        <p>Er &#x017F;ah die feige Unredlichkeit an der Tafel des Lebens &#x017F;chmau&#x017F;en und<lb/>
&#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t in die Wildniß hinausge&#x017F;toßen. Und waren die Un&#x017F;chuldigen,<lb/>
welche &#x017F;einer rettungslo&#x017F;en Verzweiflung noch zum Opfer fallen &#x017F;ollten,<lb/>
von welchen Einer bereits den Reigen begonnen hatte, waren &#x017F;ie nicht<lb/>
eines Schuldopfers werth? Hier &#x017F;tand Einer &#x017F;einer Kugel preisgegeben,<lb/>
der &#x017F;ich über und über mit Schuld an ihm bedeckt hatte. Wenn der<lb/>
Weg des Verbrechens, wie auch der rohe und verworren denkende Men&#x017F;ch<lb/>
&#x017F;ich wün&#x017F;cht, durch den Gedanken der Rache an der ungerechten Ge¬<lb/>
&#x017F;ell&#x017F;chaft eine gewi&#x017F;&#x017F;e Weihe erhalten &#x017F;ollte, &#x017F;o winkte ihm hier an der<lb/>
Pforte der Hölle eine Rachethat, bei welcher er &#x017F;ich, um Recht und<lb/>
Gerechtigkeit betrogen, &#x017F;o hoch berechtigt fühlte, Richter in eigener<lb/>
Sache zu &#x017F;ein, daß er &#x017F;ein neues Leben nicht be&#x017F;&#x017F;er einweihen zu können<lb/>
meinte. Warum zögerte &#x017F;ein Finger am Drücker?</p><lb/>
        <p>Viermal zielte er und viermal &#x017F;etzte er wieder ab.</p><lb/>
        <p>Der Men&#x017F;ch, wer er auch &#x017F;ei, trifft Stunden in &#x017F;einem Leben, wo<lb/>
er tief in &#x017F;ich blicken kann und gewahr wird, daß eine Stimme des<lb/>
Wahn&#x017F;inns in ihm &#x017F;chlummert, die zu Zeiten erwacht. Es &#x017F;teht Einer<lb/>
im Gebirge an einer jähen, &#x017F;chwindelnden Fel&#x017F;enwand, da taucht plötz¬<lb/>
lich die Stimme in ihm auf und &#x017F;agt ihm: Spring' da hinab.<lb/>
Oder er hat einen Freund bei &#x017F;ich, der ihm nie etwas zu Leid gethan,<lb/>
der &#x017F;ich ihm als feuerfe&#x017F;t erwie&#x017F;en hat; die Stimme &#x017F;agt: Gib ihm<lb/>
einen Stoß, daß er hinunter fliegt. Die men&#x017F;chliche Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft, die<lb/>
für ihren Be&#x017F;tand zu &#x017F;orgen hat, macht mit Recht den Men&#x017F;chen ver¬<lb/>
antwortlich, damit er die&#x017F;er Stimme nicht gehorcht. Wer in &#x017F;einer<lb/>
ge&#x017F;unden Kraft wandelt, der kämpft &#x017F;ie leicht nieder und lächelt über<lb/>
&#x017F;ie, wie der Men&#x017F;ch über die Sprünge &#x017F;eines thieri&#x017F;chen Zerrbildes<lb/>
lächelt. Wo aber Leiden&#x017F;chaft, wo Haß und Rache die Stimme<lb/>
beflügeln, da wird der Kampf &#x017F;chwerer. Und doch wird Jeder,<lb/>
der in den dunkel&#x017F;ten Stunden &#x017F;eines Lebens &#x017F;ein men&#x017F;chlich Theil<lb/>
gerettet oder verloren hat, Zeugniß geben, daß eine innere Bewegung<lb/>
mit der Gewalt einer un&#x017F;ichtbaren Macht eingegriffen und &#x017F;einer Hand<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[437/0453] Menſchen, der ſo oft das feindliche Werkzeug gegen ihn abgegeben, der vor wenigen Stunden noch aus Haß und Geldgier ſeine Kugel auf ihn abgeſchoſſen hatte. In dieſem unbedeutenden Menſchen ſah er Alle verſammelt, die ihn gedrückt, die ihn aus dem Geleiſe gedrängt und endlich von der Bahn ſeiner rechtmäßigen Anſprüche hinabgeſtoßen hatten. Er ſah die feige Unredlichkeit an der Tafel des Lebens ſchmauſen und ſich ſelbſt in die Wildniß hinausgeſtoßen. Und waren die Unſchuldigen, welche ſeiner rettungsloſen Verzweiflung noch zum Opfer fallen ſollten, von welchen Einer bereits den Reigen begonnen hatte, waren ſie nicht eines Schuldopfers werth? Hier ſtand Einer ſeiner Kugel preisgegeben, der ſich über und über mit Schuld an ihm bedeckt hatte. Wenn der Weg des Verbrechens, wie auch der rohe und verworren denkende Menſch ſich wünſcht, durch den Gedanken der Rache an der ungerechten Ge¬ ſellſchaft eine gewiſſe Weihe erhalten ſollte, ſo winkte ihm hier an der Pforte der Hölle eine Rachethat, bei welcher er ſich, um Recht und Gerechtigkeit betrogen, ſo hoch berechtigt fühlte, Richter in eigener Sache zu ſein, daß er ſein neues Leben nicht beſſer einweihen zu können meinte. Warum zögerte ſein Finger am Drücker? Viermal zielte er und viermal ſetzte er wieder ab. Der Menſch, wer er auch ſei, trifft Stunden in ſeinem Leben, wo er tief in ſich blicken kann und gewahr wird, daß eine Stimme des Wahnſinns in ihm ſchlummert, die zu Zeiten erwacht. Es ſteht Einer im Gebirge an einer jähen, ſchwindelnden Felſenwand, da taucht plötz¬ lich die Stimme in ihm auf und ſagt ihm: Spring' da hinab. Oder er hat einen Freund bei ſich, der ihm nie etwas zu Leid gethan, der ſich ihm als feuerfeſt erwieſen hat; die Stimme ſagt: Gib ihm einen Stoß, daß er hinunter fliegt. Die menſchliche Geſellſchaft, die für ihren Beſtand zu ſorgen hat, macht mit Recht den Menſchen ver¬ antwortlich, damit er dieſer Stimme nicht gehorcht. Wer in ſeiner geſunden Kraft wandelt, der kämpft ſie leicht nieder und lächelt über ſie, wie der Menſch über die Sprünge ſeines thieriſchen Zerrbildes lächelt. Wo aber Leidenſchaft, wo Haß und Rache die Stimme beflügeln, da wird der Kampf ſchwerer. Und doch wird Jeder, der in den dunkelſten Stunden ſeines Lebens ſein menſchlich Theil gerettet oder verloren hat, Zeugniß geben, daß eine innere Bewegung mit der Gewalt einer unſichtbaren Macht eingegriffen und ſeiner Hand

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kurz_sonnenwirth_1855
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kurz_sonnenwirth_1855/453
Zitationshilfe: Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855, S. 437. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kurz_sonnenwirth_1855/453>, abgerufen am 22.11.2024.