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Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855.

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Einschlag durch das Gewebe trieb, nein, in welchem das Verbrechen als
alltägliches Handwerk in seiner kalten Gemeinheit waltete.

In dieser schweren Nacht gedachte er an jene biblische Erzählung
von dem Erzvater, der im Traume eine Leiter auf der Erde stehen
sah, die mit der Spitze bis an den Himmel reichte; die Engel stiegen
daran auf und nieder und Gott selbst stand oben darauf. Ihm nahm
das Traumgesicht die entgegengesetzte Richtung: er sah endlose Stufen
in die Tiefe führen; der Weg hinab war leicht, aber die Rückkehr
abgeschnitten; schon war er weit hinuntergestiegen, und jetzt reichten
ihm seine Genossen die Hände und tanzten lustig lachend immer tiefer
mit ihm hinab. Die verführerische Gestalt der Gefährtin seines Ver¬
derbens winkte ihm, die Tochter einer gesetzlosen Welt erschien ihm
wie eine schöne Tigerin, die mit heißer Zunge an seinem Herzen leckte.
Mitten im Grausen der Verworfenheit empfand er den Reiz, der
ihn zu ihr hinzog, und seine Sinne riefen ihm zu, die Lust des
Lebens noch recht zu kosten, wenn er denn doch rettungslos verloren
sein solle.

Er schweifte in weiten Kreisen vom Felde in den Wald und vom
Walde in das Feld zurück; aber weder in Feld noch Wald wuchs das
Kraut, das den fieberischen Aufruhr seines Blutes heilen konnte.

Der Morgen kam und endlich ging auch die Sonne über den
Bergen auf. Höher steigend schien sie in das breite Thal hinein und
trocknete den Thau von dem gemähten Heu, das in großen Haufen
auf dem Felde lag, so daß bald ein süßer Duft sich mit den Morgen¬
lüften mischte, jener Duft, der vor allen andern den Menschen mit
heimathlichen Empfindungen erfüllt. Der Geächtete sog ihn gierig
ein und Thränen traten in seine müden Augen. Wie oft hatte er
da unten als Knabe mit andern Knaben, die jetzt sich verabscheuend
von ihm wandten oder mit der Mordwaffe seine Spur verfolgten, in
dem aufgeschichteten Heu sich gewälzt und vor Freude gejauchzt! Von
dem Vorsprung, auf dem er stand, konnte er in seinen Flecken hinein¬
sehen und die Giebel der Häuser erkennen, an welchen seine Erinne¬
rungen hafteten. Dort, von den Erlen des Flüßchens überragt, stand
das Haus, das ihn geboren, das nach dem rechten Laufe der
Dinge ihn als Erben hätte behalten sollen. Hier, am Ende des Fleckens,
stand das Haus der Armuth, wo seine Kinder waren, wo er den

D. B. IV. Kurz, Sonnenwirth 28

Einſchlag durch das Gewebe trieb, nein, in welchem das Verbrechen als
alltägliches Handwerk in ſeiner kalten Gemeinheit waltete.

In dieſer ſchweren Nacht gedachte er an jene bibliſche Erzählung
von dem Erzvater, der im Traume eine Leiter auf der Erde ſtehen
ſah, die mit der Spitze bis an den Himmel reichte; die Engel ſtiegen
daran auf und nieder und Gott ſelbſt ſtand oben darauf. Ihm nahm
das Traumgeſicht die entgegengeſetzte Richtung: er ſah endloſe Stufen
in die Tiefe führen; der Weg hinab war leicht, aber die Rückkehr
abgeſchnitten; ſchon war er weit hinuntergeſtiegen, und jetzt reichten
ihm ſeine Genoſſen die Hände und tanzten luſtig lachend immer tiefer
mit ihm hinab. Die verführeriſche Geſtalt der Gefährtin ſeines Ver¬
derbens winkte ihm, die Tochter einer geſetzloſen Welt erſchien ihm
wie eine ſchöne Tigerin, die mit heißer Zunge an ſeinem Herzen leckte.
Mitten im Grauſen der Verworfenheit empfand er den Reiz, der
ihn zu ihr hinzog, und ſeine Sinne riefen ihm zu, die Luſt des
Lebens noch recht zu koſten, wenn er denn doch rettungslos verloren
ſein ſolle.

Er ſchweifte in weiten Kreiſen vom Felde in den Wald und vom
Walde in das Feld zurück; aber weder in Feld noch Wald wuchs das
Kraut, das den fieberiſchen Aufruhr ſeines Blutes heilen konnte.

Der Morgen kam und endlich ging auch die Sonne über den
Bergen auf. Höher ſteigend ſchien ſie in das breite Thal hinein und
trocknete den Thau von dem gemähten Heu, das in großen Haufen
auf dem Felde lag, ſo daß bald ein ſüßer Duft ſich mit den Morgen¬
lüften miſchte, jener Duft, der vor allen andern den Menſchen mit
heimathlichen Empfindungen erfüllt. Der Geächtete ſog ihn gierig
ein und Thränen traten in ſeine müden Augen. Wie oft hatte er
da unten als Knabe mit andern Knaben, die jetzt ſich verabſcheuend
von ihm wandten oder mit der Mordwaffe ſeine Spur verfolgten, in
dem aufgeſchichteten Heu ſich gewälzt und vor Freude gejauchzt! Von
dem Vorſprung, auf dem er ſtand, konnte er in ſeinen Flecken hinein¬
ſehen und die Giebel der Häuſer erkennen, an welchen ſeine Erinne¬
rungen hafteten. Dort, von den Erlen des Flüßchens überragt, ſtand
das Haus, das ihn geboren, das nach dem rechten Laufe der
Dinge ihn als Erben hätte behalten ſollen. Hier, am Ende des Fleckens,
ſtand das Haus der Armuth, wo ſeine Kinder waren, wo er den

D. B. IV. Kurz, Sonnenwirth 28
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[433/0449] Einſchlag durch das Gewebe trieb, nein, in welchem das Verbrechen als alltägliches Handwerk in ſeiner kalten Gemeinheit waltete. In dieſer ſchweren Nacht gedachte er an jene bibliſche Erzählung von dem Erzvater, der im Traume eine Leiter auf der Erde ſtehen ſah, die mit der Spitze bis an den Himmel reichte; die Engel ſtiegen daran auf und nieder und Gott ſelbſt ſtand oben darauf. Ihm nahm das Traumgeſicht die entgegengeſetzte Richtung: er ſah endloſe Stufen in die Tiefe führen; der Weg hinab war leicht, aber die Rückkehr abgeſchnitten; ſchon war er weit hinuntergeſtiegen, und jetzt reichten ihm ſeine Genoſſen die Hände und tanzten luſtig lachend immer tiefer mit ihm hinab. Die verführeriſche Geſtalt der Gefährtin ſeines Ver¬ derbens winkte ihm, die Tochter einer geſetzloſen Welt erſchien ihm wie eine ſchöne Tigerin, die mit heißer Zunge an ſeinem Herzen leckte. Mitten im Grauſen der Verworfenheit empfand er den Reiz, der ihn zu ihr hinzog, und ſeine Sinne riefen ihm zu, die Luſt des Lebens noch recht zu koſten, wenn er denn doch rettungslos verloren ſein ſolle. Er ſchweifte in weiten Kreiſen vom Felde in den Wald und vom Walde in das Feld zurück; aber weder in Feld noch Wald wuchs das Kraut, das den fieberiſchen Aufruhr ſeines Blutes heilen konnte. Der Morgen kam und endlich ging auch die Sonne über den Bergen auf. Höher ſteigend ſchien ſie in das breite Thal hinein und trocknete den Thau von dem gemähten Heu, das in großen Haufen auf dem Felde lag, ſo daß bald ein ſüßer Duft ſich mit den Morgen¬ lüften miſchte, jener Duft, der vor allen andern den Menſchen mit heimathlichen Empfindungen erfüllt. Der Geächtete ſog ihn gierig ein und Thränen traten in ſeine müden Augen. Wie oft hatte er da unten als Knabe mit andern Knaben, die jetzt ſich verabſcheuend von ihm wandten oder mit der Mordwaffe ſeine Spur verfolgten, in dem aufgeſchichteten Heu ſich gewälzt und vor Freude gejauchzt! Von dem Vorſprung, auf dem er ſtand, konnte er in ſeinen Flecken hinein¬ ſehen und die Giebel der Häuſer erkennen, an welchen ſeine Erinne¬ rungen hafteten. Dort, von den Erlen des Flüßchens überragt, ſtand das Haus, das ihn geboren, das nach dem rechten Laufe der Dinge ihn als Erben hätte behalten ſollen. Hier, am Ende des Fleckens, ſtand das Haus der Armuth, wo ſeine Kinder waren, wo er den D. B. IV. Kurz, Sonnenwirth 28

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Zitationshilfe: Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855, S. 433. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kurz_sonnenwirth_1855/449>, abgerufen am 22.11.2024.