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Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855.

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und schrie ihm die Worte in's Ohr: werd' brav! werd' rechtschaffen!
Du mußt nicht meinen, es müsse dir auch gehen wie deinem
Vater! Es geht nicht Jedem so, es darf dir nicht auch so gehen!
Wenn du älter bist und mehr weißt als jetzt, dann wirst du einsehen,
daß du kein Dieb zu werden brauchst, wenn du deinem Vater anhäng¬
lich sein willst. Dann wirst du aber auch verstehen, daß dein Vater
nicht so schlecht gewesen ist, wie die Leut' von ihm gesagt haben. Und
deine Mutter, die du so wenig gesehen hast, ist eine gute Mutter, Kind,
und kann nichts dafür, daß sie nicht öfter nach dir sieht, und wenn
sie wieder bei dir sein kann -- --

Die Stimme brach ihm, er schlug die Hände vor die Augen und
legte den Kopf auf den Tisch. Es wurde ganz still, nur daß man
tief aus seiner Brust herauf ein unterdrücktes Schluchzen hörte.
Die Alte sah sich einen Augenblick um, setzte sich dann so, daß sie
dem Tische und der Thüre den Rücken zukehrte und begann hierauf
mit einer Stimme, die abscheulich lautete, das geistliche Lied zu singen:
"Valet will ich dir geben, du arge falsche Welt."

Der Geächtete hatte seinen Empfindungen eine kurze Zeit freien
Lauf gelassen, da weckte ihn ein durchdringendes Geschrei seines kleinen
Sohnes: Vater! Vater! Philister über dir, Simson!

Er fuhr auf und starrte, die Augen voll Thränen, in die Stube,
aber die Bewegung hatte nur dazu gedient, seinen Kopf einer Schlinge
preiszugeben, die im gleichen Augenblicke fest um seinen Hals zugezogen
wurde. Die Stube war voll bewaffneter Männer. Er fuhr mit der
Hand nach dem Halse, um sich von der Schlinge frei zu machen. Da
schrie der Fischer, der unter den Vordersten war: Hand weg, oder du
mußt verworgen! Zugleich wurde die Schlinge noch fester angezogen,
so daß er taumelte. Er ließ ab vom Widerstande und war nach kurzer
Zeit an Armen und Beinen so fest geschnürt, daß man ihn ohne Ge¬
fahr fortschaffen konnte. Die Alte schickte sich heulend und schreiend
an, mit ihrer trüben Ampel zum Haus hinaus zu leuchten, und be¬
theuerte ihm fortwährend, daß sie an dem Unglück unschuldig sei. Mag
sein, erwiderte er, sie mit ungewissen Blicken messend, aber dir, Fischer¬
hanne, ist's geschworen -- und wenn ihr mir auch die Arm' fesselt,
die Schwurfinger kann ich doch noch bewegen -- der nächste Streich,
den du mir spielst, ist dein Tod. -- Verhoffentlich wird kein weiterer

und ſchrie ihm die Worte in's Ohr: werd' brav! werd' rechtſchaffen!
Du mußt nicht meinen, es müſſe dir auch gehen wie deinem
Vater! Es geht nicht Jedem ſo, es darf dir nicht auch ſo gehen!
Wenn du älter biſt und mehr weißt als jetzt, dann wirſt du einſehen,
daß du kein Dieb zu werden brauchſt, wenn du deinem Vater anhäng¬
lich ſein willſt. Dann wirſt du aber auch verſtehen, daß dein Vater
nicht ſo ſchlecht geweſen iſt, wie die Leut' von ihm geſagt haben. Und
deine Mutter, die du ſo wenig geſehen haſt, iſt eine gute Mutter, Kind,
und kann nichts dafür, daß ſie nicht öfter nach dir ſieht, und wenn
ſie wieder bei dir ſein kann — —

Die Stimme brach ihm, er ſchlug die Hände vor die Augen und
legte den Kopf auf den Tiſch. Es wurde ganz ſtill, nur daß man
tief aus ſeiner Bruſt herauf ein unterdrücktes Schluchzen hörte.
Die Alte ſah ſich einen Augenblick um, ſetzte ſich dann ſo, daß ſie
dem Tiſche und der Thüre den Rücken zukehrte und begann hierauf
mit einer Stimme, die abſcheulich lautete, das geiſtliche Lied zu ſingen:
„Valet will ich dir geben, du arge falſche Welt.“

Der Geächtete hatte ſeinen Empfindungen eine kurze Zeit freien
Lauf gelaſſen, da weckte ihn ein durchdringendes Geſchrei ſeines kleinen
Sohnes: Vater! Vater! Philiſter über dir, Simſon!

Er fuhr auf und ſtarrte, die Augen voll Thränen, in die Stube,
aber die Bewegung hatte nur dazu gedient, ſeinen Kopf einer Schlinge
preiszugeben, die im gleichen Augenblicke feſt um ſeinen Hals zugezogen
wurde. Die Stube war voll bewaffneter Männer. Er fuhr mit der
Hand nach dem Halſe, um ſich von der Schlinge frei zu machen. Da
ſchrie der Fiſcher, der unter den Vorderſten war: Hand weg, oder du
mußt verworgen! Zugleich wurde die Schlinge noch feſter angezogen,
ſo daß er taumelte. Er ließ ab vom Widerſtande und war nach kurzer
Zeit an Armen und Beinen ſo feſt geſchnürt, daß man ihn ohne Ge¬
fahr fortſchaffen konnte. Die Alte ſchickte ſich heulend und ſchreiend
an, mit ihrer trüben Ampel zum Haus hinaus zu leuchten, und be¬
theuerte ihm fortwährend, daß ſie an dem Unglück unſchuldig ſei. Mag
ſein, erwiderte er, ſie mit ungewiſſen Blicken meſſend, aber dir, Fiſcher¬
hanne, iſt's geſchworen — und wenn ihr mir auch die Arm' feſſelt,
die Schwurfinger kann ich doch noch bewegen — der nächſte Streich,
den du mir ſpielſt, iſt dein Tod. — Verhoffentlich wird kein weiterer

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[340/0356] und ſchrie ihm die Worte in's Ohr: werd' brav! werd' rechtſchaffen! Du mußt nicht meinen, es müſſe dir auch gehen wie deinem Vater! Es geht nicht Jedem ſo, es darf dir nicht auch ſo gehen! Wenn du älter biſt und mehr weißt als jetzt, dann wirſt du einſehen, daß du kein Dieb zu werden brauchſt, wenn du deinem Vater anhäng¬ lich ſein willſt. Dann wirſt du aber auch verſtehen, daß dein Vater nicht ſo ſchlecht geweſen iſt, wie die Leut' von ihm geſagt haben. Und deine Mutter, die du ſo wenig geſehen haſt, iſt eine gute Mutter, Kind, und kann nichts dafür, daß ſie nicht öfter nach dir ſieht, und wenn ſie wieder bei dir ſein kann — — Die Stimme brach ihm, er ſchlug die Hände vor die Augen und legte den Kopf auf den Tiſch. Es wurde ganz ſtill, nur daß man tief aus ſeiner Bruſt herauf ein unterdrücktes Schluchzen hörte. Die Alte ſah ſich einen Augenblick um, ſetzte ſich dann ſo, daß ſie dem Tiſche und der Thüre den Rücken zukehrte und begann hierauf mit einer Stimme, die abſcheulich lautete, das geiſtliche Lied zu ſingen: „Valet will ich dir geben, du arge falſche Welt.“ Der Geächtete hatte ſeinen Empfindungen eine kurze Zeit freien Lauf gelaſſen, da weckte ihn ein durchdringendes Geſchrei ſeines kleinen Sohnes: Vater! Vater! Philiſter über dir, Simſon! Er fuhr auf und ſtarrte, die Augen voll Thränen, in die Stube, aber die Bewegung hatte nur dazu gedient, ſeinen Kopf einer Schlinge preiszugeben, die im gleichen Augenblicke feſt um ſeinen Hals zugezogen wurde. Die Stube war voll bewaffneter Männer. Er fuhr mit der Hand nach dem Halſe, um ſich von der Schlinge frei zu machen. Da ſchrie der Fiſcher, der unter den Vorderſten war: Hand weg, oder du mußt verworgen! Zugleich wurde die Schlinge noch feſter angezogen, ſo daß er taumelte. Er ließ ab vom Widerſtande und war nach kurzer Zeit an Armen und Beinen ſo feſt geſchnürt, daß man ihn ohne Ge¬ fahr fortſchaffen konnte. Die Alte ſchickte ſich heulend und ſchreiend an, mit ihrer trüben Ampel zum Haus hinaus zu leuchten, und be¬ theuerte ihm fortwährend, daß ſie an dem Unglück unſchuldig ſei. Mag ſein, erwiderte er, ſie mit ungewiſſen Blicken meſſend, aber dir, Fiſcher¬ hanne, iſt's geſchworen — und wenn ihr mir auch die Arm' feſſelt, die Schwurfinger kann ich doch noch bewegen — der nächſte Streich, den du mir ſpielſt, iſt dein Tod. — Verhoffentlich wird kein weiterer

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Zitationshilfe: Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855, S. 340. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kurz_sonnenwirth_1855/356>, abgerufen am 16.05.2024.