senkte; dann schlug er wieder deutlicher an das Ohr. Bald hatte der Wanderer das Dorf erreicht; er ging langsamer, verweilte hie und da, und setzte dann seine Schritte wieder fort. Wie er näher kam, ein kräftiger, untersetzter Mann, entdeckte er die Gestalt am Brunnen und trat, wie um sie zu fragen, auf sie zu. Kaum aber hatte er sie voll in's Auge gefaßt, so umschlang er sie und drückte sie heftig an sich. Mit einem leisen Schrei des Schreckens und Unwillens suchte sie sich loszumachen, da sagte er mit unterdrückter Stimme: Christine! Sie sah ihm in das Gesicht und stürzte mit einem zweiten Schrei an seine Brust, die Arme um ihn schlagend. Nach einer langen Umarmung, in welcher sie zuweilen tief Athem holte, sagte sie weinend: Mein Frieder, mein Frieder! Was für ein Engel führt dich zu mir? Wo kommst denn her?
Von Hohentwiel, von Frankfurt, von Ebersbach, aus dem Gefäng¬ niß, aus der Welt, aus der Heimath, -- woher du willst! antwortete er fröhlich.
Daß du von Hohentwiel entkommen bist, sagte sie, ist das Letzt', was ich von dir weiß. Das hat einen solchen Lärmen durch's Land geben, daß ich's sogar im Zuchthaus erfahren hab'. Kannst dir vor¬ stellen, wie mich's gefreut hat.
Im Zuchthaus! versetzte er. Ich weiß, daß sie dich dorthin ge¬ than haben. O 's ist scheußlich! scheußlich!
Sie haben gesagt, sonst werd' Eine erst beim dritten Kind so ge¬ straft, mir aber müss' man's schon beim zweiten andictiren, für mei¬ nen Umgang mit dir, weil du dich so aufgeführt habest, daß man dich lebenslänglich hab' auf die Festung sperren müssen.
Er lachte wild.
Sie fiel ihm abermals um den Hals; dann sah sie sich scheu um, ob niemand ihr Thun bemerkt habe. Hierauf fragte sie hastig: Und von Ebersbach kommest, sagst? Was machen meine Kinder?
Sie sind ganz wohl, antwortete er: das Kleine hat all' seine Zähn', du mußt's ja gesehen haben, wie du letzt dort gewesen bist, und lauft ganz allein; und der Groß' hat vorgestern zum erstenmal in die Schule dürfen zum Zuhören. Er hat mir aufgeben, ich solle die Mutter schön grüßen.
Sie schluchzte. Aber ich vergess' mich ganz, sagte sie dann er¬
ſenkte; dann ſchlug er wieder deutlicher an das Ohr. Bald hatte der Wanderer das Dorf erreicht; er ging langſamer, verweilte hie und da, und ſetzte dann ſeine Schritte wieder fort. Wie er näher kam, ein kräftiger, unterſetzter Mann, entdeckte er die Geſtalt am Brunnen und trat, wie um ſie zu fragen, auf ſie zu. Kaum aber hatte er ſie voll in's Auge gefaßt, ſo umſchlang er ſie und drückte ſie heftig an ſich. Mit einem leiſen Schrei des Schreckens und Unwillens ſuchte ſie ſich loszumachen, da ſagte er mit unterdrückter Stimme: Chriſtine! Sie ſah ihm in das Geſicht und ſtürzte mit einem zweiten Schrei an ſeine Bruſt, die Arme um ihn ſchlagend. Nach einer langen Umarmung, in welcher ſie zuweilen tief Athem holte, ſagte ſie weinend: Mein Frieder, mein Frieder! Was für ein Engel führt dich zu mir? Wo kommſt denn her?
Von Hohentwiel, von Frankfurt, von Ebersbach, aus dem Gefäng¬ niß, aus der Welt, aus der Heimath, — woher du willſt! antwortete er fröhlich.
Daß du von Hohentwiel entkommen biſt, ſagte ſie, iſt das Letzt', was ich von dir weiß. Das hat einen ſolchen Lärmen durch's Land geben, daß ich's ſogar im Zuchthaus erfahren hab'. Kannſt dir vor¬ ſtellen, wie mich's gefreut hat.
Im Zuchthaus! verſetzte er. Ich weiß, daß ſie dich dorthin ge¬ than haben. O 's iſt ſcheußlich! ſcheußlich!
Sie haben geſagt, ſonſt werd' Eine erſt beim dritten Kind ſo ge¬ ſtraft, mir aber müſſ' man's ſchon beim zweiten andictiren, für mei¬ nen Umgang mit dir, weil du dich ſo aufgeführt habeſt, daß man dich lebenslänglich hab' auf die Feſtung ſperren müſſen.
Er lachte wild.
Sie fiel ihm abermals um den Hals; dann ſah ſie ſich ſcheu um, ob niemand ihr Thun bemerkt habe. Hierauf fragte ſie haſtig: Und von Ebersbach kommeſt, ſagſt? Was machen meine Kinder?
Sie ſind ganz wohl, antwortete er: das Kleine hat all' ſeine Zähn', du mußt's ja geſehen haben, wie du letzt dort geweſen biſt, und lauft ganz allein; und der Groß' hat vorgeſtern zum erſtenmal in die Schule dürfen zum Zuhören. Er hat mir aufgeben, ich ſolle die Mutter ſchön grüßen.
Sie ſchluchzte. Aber ich vergeſſ' mich ganz, ſagte ſie dann er¬
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ſenkte; dann ſchlug er wieder deutlicher an das Ohr. Bald hatte der
Wanderer das Dorf erreicht; er ging langſamer, verweilte hie und da,
und ſetzte dann ſeine Schritte wieder fort. Wie er näher kam, ein
kräftiger, unterſetzter Mann, entdeckte er die Geſtalt am Brunnen und
trat, wie um ſie zu fragen, auf ſie zu. Kaum aber hatte er ſie voll
in's Auge gefaßt, ſo umſchlang er ſie und drückte ſie heftig an ſich.
Mit einem leiſen Schrei des Schreckens und Unwillens ſuchte ſie ſich
loszumachen, da ſagte er mit unterdrückter Stimme: Chriſtine! Sie
ſah ihm in das Geſicht und ſtürzte mit einem zweiten Schrei an ſeine
Bruſt, die Arme um ihn ſchlagend. Nach einer langen Umarmung,
in welcher ſie zuweilen tief Athem holte, ſagte ſie weinend: Mein
Frieder, mein Frieder! Was für ein Engel führt dich zu mir? Wo
kommſt denn her?
Von Hohentwiel, von Frankfurt, von Ebersbach, aus dem Gefäng¬
niß, aus der Welt, aus der Heimath, — woher du willſt! antwortete
er fröhlich.
Daß du von Hohentwiel entkommen biſt, ſagte ſie, iſt das Letzt',
was ich von dir weiß. Das hat einen ſolchen Lärmen durch's Land
geben, daß ich's ſogar im Zuchthaus erfahren hab'. Kannſt dir vor¬
ſtellen, wie mich's gefreut hat.
Im Zuchthaus! verſetzte er. Ich weiß, daß ſie dich dorthin ge¬
than haben. O 's iſt ſcheußlich! ſcheußlich!
Sie haben geſagt, ſonſt werd' Eine erſt beim dritten Kind ſo ge¬
ſtraft, mir aber müſſ' man's ſchon beim zweiten andictiren, für mei¬
nen Umgang mit dir, weil du dich ſo aufgeführt habeſt, daß man
dich lebenslänglich hab' auf die Feſtung ſperren müſſen.
Er lachte wild.
Sie fiel ihm abermals um den Hals; dann ſah ſie ſich ſcheu um,
ob niemand ihr Thun bemerkt habe. Hierauf fragte ſie haſtig: Und
von Ebersbach kommeſt, ſagſt? Was machen meine Kinder?
Sie ſind ganz wohl, antwortete er: das Kleine hat all' ſeine
Zähn', du mußt's ja geſehen haben, wie du letzt dort geweſen biſt,
und lauft ganz allein; und der Groß' hat vorgeſtern zum erſtenmal
in die Schule dürfen zum Zuhören. Er hat mir aufgeben, ich ſolle
die Mutter ſchön grüßen.
Sie ſchluchzte. Aber ich vergeſſ' mich ganz, ſagte ſie dann er¬
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Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855, S. 287. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kurz_sonnenwirth_1855/303>, abgerufen am 22.11.2024.
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