Kürnberger, Ferdinand: Der Drache. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 11. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. [263]–310. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Unterhaltung aus der Dorfschenke noch fortfristete und ein gar reiches Füllhorn von erzgebirgischen Drachen-Märchen ausschüttete. Ueppig aufs Erdenbett ausgestreckt, das Auge hingegeben an die ewigen Sternbilder, hörte er gerne zu, wie das kleine kindische Menschengehirn die Grillenflügel der Phantasie schüttelte. Nur der Bauer Raithmeyer und seine Erbschaft wurde nicht mehr genannt zwischen ihnen. Wie auf stillschweigende Verabredung blieb Herr und Diener stumm über dieses Abenteuer. So rückte die Nacht vor -- endlich entschlummerten sie. Die Morgensonne ging prangend auf. Beim Anblicke des Höhenprofils fand sich der Doctor mit Hülfe seiner Karte jetzt von selbst zurecht. Man botanisirte den Tag hindurch gemächlich ins Land hinab. Als aber die zackigen Felsstöcke des Erzgebirges vor den runderen Hügelwellen, die schwarzen finsteren Nadelhölzer vor den Obstgärten und Kornfeldern zurücktraten, da wurde Rudolf still und stiller. Dem Doctor entging diese veränderte Stimmung nicht; aber er dachte, der Sohn des Hochgebirges mag sich im Mittellande naturgemäß ausgenüchtert fühlen; erst die Stadt selbst würde ihn wieder zu starken Empfindungen anregen. So fuhr man in die glänzende Haupt- und Residenzstadt Dresden ein. Der Doctor stellte seiner Frau den ländlichen Ankömmling als einen künftigen Eleven der Wissenschaft vor. Er sei eine Waise aus dem höchsten Erzgebirge, von aller Welt mißbraucht und verlassen, er habe ihn auf seiner botanischen Excursion als Reisdiener gemiethet. Bei dieser Gelegenheit sei ein Geist in dem rohen Naturkinde sichtbar geworden, der ein besseres Loos verdiene. Er könne einstweilen hier im Hause ein Verhältniß zwischen Schüler und Diener einnehmen und die Anfangsgründe einer gelehrten Bildung sich aneignen. Dann würde man ihn nach Unterhaltung aus der Dorfschenke noch fortfristete und ein gar reiches Füllhorn von erzgebirgischen Drachen-Märchen ausschüttete. Ueppig aufs Erdenbett ausgestreckt, das Auge hingegeben an die ewigen Sternbilder, hörte er gerne zu, wie das kleine kindische Menschengehirn die Grillenflügel der Phantasie schüttelte. Nur der Bauer Raithmeyer und seine Erbschaft wurde nicht mehr genannt zwischen ihnen. Wie auf stillschweigende Verabredung blieb Herr und Diener stumm über dieses Abenteuer. So rückte die Nacht vor — endlich entschlummerten sie. Die Morgensonne ging prangend auf. Beim Anblicke des Höhenprofils fand sich der Doctor mit Hülfe seiner Karte jetzt von selbst zurecht. Man botanisirte den Tag hindurch gemächlich ins Land hinab. Als aber die zackigen Felsstöcke des Erzgebirges vor den runderen Hügelwellen, die schwarzen finsteren Nadelhölzer vor den Obstgärten und Kornfeldern zurücktraten, da wurde Rudolf still und stiller. Dem Doctor entging diese veränderte Stimmung nicht; aber er dachte, der Sohn des Hochgebirges mag sich im Mittellande naturgemäß ausgenüchtert fühlen; erst die Stadt selbst würde ihn wieder zu starken Empfindungen anregen. So fuhr man in die glänzende Haupt- und Residenzstadt Dresden ein. Der Doctor stellte seiner Frau den ländlichen Ankömmling als einen künftigen Eleven der Wissenschaft vor. Er sei eine Waise aus dem höchsten Erzgebirge, von aller Welt mißbraucht und verlassen, er habe ihn auf seiner botanischen Excursion als Reisdiener gemiethet. Bei dieser Gelegenheit sei ein Geist in dem rohen Naturkinde sichtbar geworden, der ein besseres Loos verdiene. 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Als aber die zackigen Felsstöcke des Erzgebirges vor den runderen Hügelwellen, die schwarzen finsteren Nadelhölzer vor den Obstgärten und Kornfeldern zurücktraten, da wurde Rudolf still und stiller. Dem Doctor entging diese veränderte Stimmung nicht; aber er dachte, der Sohn des Hochgebirges mag sich im Mittellande naturgemäß ausgenüchtert fühlen; erst die Stadt selbst würde ihn wieder zu starken Empfindungen anregen. So fuhr man in die glänzende Haupt- und Residenzstadt Dresden ein.</p><lb/> <p>Der Doctor stellte seiner Frau den ländlichen Ankömmling als einen künftigen Eleven der Wissenschaft vor. Er sei eine Waise aus dem höchsten Erzgebirge, von aller Welt mißbraucht und verlassen, er habe ihn auf seiner botanischen Excursion als Reisdiener gemiethet. Bei dieser Gelegenheit sei ein Geist in dem rohen Naturkinde sichtbar geworden, der ein besseres Loos verdiene. 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Unterhaltung aus der Dorfschenke noch fortfristete und ein gar reiches Füllhorn von erzgebirgischen Drachen-Märchen ausschüttete. Ueppig aufs Erdenbett ausgestreckt, das Auge hingegeben an die ewigen Sternbilder, hörte er gerne zu, wie das kleine kindische Menschengehirn die Grillenflügel der Phantasie schüttelte. Nur der Bauer Raithmeyer und seine Erbschaft wurde nicht mehr genannt zwischen ihnen. Wie auf stillschweigende Verabredung blieb Herr und Diener stumm über dieses Abenteuer. So rückte die Nacht vor — endlich entschlummerten sie.
Die Morgensonne ging prangend auf. Beim Anblicke des Höhenprofils fand sich der Doctor mit Hülfe seiner Karte jetzt von selbst zurecht. Man botanisirte den Tag hindurch gemächlich ins Land hinab. Als aber die zackigen Felsstöcke des Erzgebirges vor den runderen Hügelwellen, die schwarzen finsteren Nadelhölzer vor den Obstgärten und Kornfeldern zurücktraten, da wurde Rudolf still und stiller. Dem Doctor entging diese veränderte Stimmung nicht; aber er dachte, der Sohn des Hochgebirges mag sich im Mittellande naturgemäß ausgenüchtert fühlen; erst die Stadt selbst würde ihn wieder zu starken Empfindungen anregen. So fuhr man in die glänzende Haupt- und Residenzstadt Dresden ein.
Der Doctor stellte seiner Frau den ländlichen Ankömmling als einen künftigen Eleven der Wissenschaft vor. Er sei eine Waise aus dem höchsten Erzgebirge, von aller Welt mißbraucht und verlassen, er habe ihn auf seiner botanischen Excursion als Reisdiener gemiethet. Bei dieser Gelegenheit sei ein Geist in dem rohen Naturkinde sichtbar geworden, der ein besseres Loos verdiene. Er könne einstweilen hier im Hause ein Verhältniß zwischen Schüler und Diener einnehmen und die Anfangsgründe einer gelehrten Bildung sich aneignen. Dann würde man ihn nach
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Zitationshilfe: | Kürnberger, Ferdinand: Der Drache. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 11. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. [263]–310. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kuernberger_drache_1910/20>, abgerufen am 16.02.2025. |