Denkweise heraus diese Bemerkung geschöpft ist, nicht möglich, sich für den Amerikaner zu begeistern, dessen erhabenem Thun das schöne Sein fehlte. Vergebens staunte Moorfeld auf Schritt und Tritt Werke und Einrichtungen an, denen Europa nichts Gleiches an die Seite setzt, seine Aufmerksamkeit ermüdete bald, denn der Eindruck zerfloß ihm in Luft, weil die Thaten herrlicher waren als die Thäter, und das Grandios-Menschliche nie in der Personificirung grandioser Men¬ schen erschien. Nicht die Vernunft, sondern die Sitte des Volks ist der Gradmesser seiner Bildung, auch hat die Volksvernunft nirgends, die Volkssitte aber überall einen Leib. Man ladet unsern Freund z. B. ein, einer Sitzung des Newyorker Assisenhofes beizuwohnen, es komme ein interessanter Rechtsfall heute zum Spruche, die Gewandtheit der Advocaten, die gesetzliche Haltung des Publikums, der durchdringende Verstand der Geschwornen -- Alles werde ihm ein Schauspiel bieten, dergleichen die Welt -- u. s. w. Moorfeld betritt den Gerichtssaal, den Hunderte von Personen hundert Mal in jeder Minute mit Tabak¬ saft bespeien, er sieht im Nu ein Resultat aus diesen vereinten Kräf¬ ten anwachsen, das Alle Sinne auf's Gröbste verletzt -- wo bleibt da der geistige Eindruck? Wer heißt die Göttin Themis ihre Orakel zugleich aus einem Meere von Weisheit und von Speichel schöpfen? Oder der Ruf hat ihm Croton's Wasserleitung als das achte Welt¬ wunder bezeichnet, er fährt eines Tags hinaus und will bewundern. Aber unterwegs macht sich ein kleiner zehnjähriger Souverain das Vergnügen, seinen Revolver in den Wagen abzufeuern, die Kugel dringt durch das Fenster, streift zuerst eine Dame an den Kleidern, schlägt dann einem gegenübersitzenden Herrn, der zufällig ein Polizei- Sergeant ist, an die stählerne Tabaksdose in der Hosentasche, prallt von dieser ab, indem sie noch etwas Fleisch von der rechten Hand des Polizisten mitnimmt, berührt dann leise die Schulter seiner Nachbarin und fällt zwischen dieser und Moorfeld auf den Boden nieder. So nahm jener Vergnügungsschuß des freien und aufgeklärten Bürger- Sprößlings noch einen unschädlichen Verlauf, aber er hätte eben so gut tödten können und der Gedanke, an Croton's Wasserleitung als Vergnügungs Leiche anzukommen, war doch gewiß nicht die beste Vor¬ bereitung, um dieses Wunderwerk eines freien und aufgeklärten Vol¬ kes zu würdigen. Oder unser Freund wird aufmerksam gemacht, sich
Denkweiſe heraus dieſe Bemerkung geſchöpft iſt, nicht möglich, ſich für den Amerikaner zu begeiſtern, deſſen erhabenem Thun das ſchöne Sein fehlte. Vergebens ſtaunte Moorfeld auf Schritt und Tritt Werke und Einrichtungen an, denen Europa nichts Gleiches an die Seite ſetzt, ſeine Aufmerkſamkeit ermüdete bald, denn der Eindruck zerfloß ihm in Luft, weil die Thaten herrlicher waren als die Thäter, und das Grandios-Menſchliche nie in der Perſonificirung grandioſer Men¬ ſchen erſchien. Nicht die Vernunft, ſondern die Sitte des Volks iſt der Gradmeſſer ſeiner Bildung, auch hat die Volksvernunft nirgends, die Volksſitte aber überall einen Leib. Man ladet unſern Freund z. B. ein, einer Sitzung des Newyorker Aſſiſenhofes beizuwohnen, es komme ein intereſſanter Rechtsfall heute zum Spruche, die Gewandtheit der Advocaten, die geſetzliche Haltung des Publikums, der durchdringende Verſtand der Geſchwornen — Alles werde ihm ein Schauſpiel bieten, dergleichen die Welt — u. ſ. w. Moorfeld betritt den Gerichtsſaal, den Hunderte von Perſonen hundert Mal in jeder Minute mit Tabak¬ ſaft beſpeien, er ſieht im Nu ein Reſultat aus dieſen vereinten Kräf¬ ten anwachſen, das Alle Sinne auf's Gröbſte verletzt — wo bleibt da der geiſtige Eindruck? Wer heißt die Göttin Themis ihre Orakel zugleich aus einem Meere von Weisheit und von Speichel ſchöpfen? Oder der Ruf hat ihm Croton's Waſſerleitung als das achte Welt¬ wunder bezeichnet, er fährt eines Tags hinaus und will bewundern. Aber unterwegs macht ſich ein kleiner zehnjähriger Souverain das Vergnügen, ſeinen Revolver in den Wagen abzufeuern, die Kugel dringt durch das Fenſter, ſtreift zuerſt eine Dame an den Kleidern, ſchlägt dann einem gegenüberſitzenden Herrn, der zufällig ein Polizei- Sergeant iſt, an die ſtählerne Tabaksdoſe in der Hoſentaſche, prallt von dieſer ab, indem ſie noch etwas Fleiſch von der rechten Hand des Poliziſten mitnimmt, berührt dann leiſe die Schulter ſeiner Nachbarin und fällt zwiſchen dieſer und Moorfeld auf den Boden nieder. So nahm jener Vergnügungsſchuß des freien und aufgeklärten Bürger- Sprößlings noch einen unſchädlichen Verlauf, aber er hätte eben ſo gut tödten können und der Gedanke, an Croton's Waſſerleitung als Vergnügungs Leiche anzukommen, war doch gewiß nicht die beſte Vor¬ bereitung, um dieſes Wunderwerk eines freien und aufgeklärten Vol¬ kes zu würdigen. Oder unſer Freund wird aufmerkſam gemacht, ſich
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[78/0096]
Denkweiſe heraus dieſe Bemerkung geſchöpft iſt, nicht möglich, ſich für
den Amerikaner zu begeiſtern, deſſen erhabenem Thun das ſchöne Sein
fehlte. Vergebens ſtaunte Moorfeld auf Schritt und Tritt Werke
und Einrichtungen an, denen Europa nichts Gleiches an die Seite
ſetzt, ſeine Aufmerkſamkeit ermüdete bald, denn der Eindruck zerfloß
ihm in Luft, weil die Thaten herrlicher waren als die Thäter, und
das Grandios-Menſchliche nie in der Perſonificirung grandioſer Men¬
ſchen erſchien. Nicht die Vernunft, ſondern die Sitte des Volks iſt
der Gradmeſſer ſeiner Bildung, auch hat die Volksvernunft nirgends,
die Volksſitte aber überall einen Leib. Man ladet unſern Freund z. B.
ein, einer Sitzung des Newyorker Aſſiſenhofes beizuwohnen, es komme
ein intereſſanter Rechtsfall heute zum Spruche, die Gewandtheit der
Advocaten, die geſetzliche Haltung des Publikums, der durchdringende
Verſtand der Geſchwornen — Alles werde ihm ein Schauſpiel bieten,
dergleichen die Welt — u. ſ. w. Moorfeld betritt den Gerichtsſaal,
den Hunderte von Perſonen hundert Mal in jeder Minute mit Tabak¬
ſaft beſpeien, er ſieht im Nu ein Reſultat aus dieſen vereinten Kräf¬
ten anwachſen, das Alle Sinne auf's Gröbſte verletzt — wo bleibt
da der geiſtige Eindruck? Wer heißt die Göttin Themis ihre Orakel
zugleich aus einem Meere von Weisheit und von Speichel ſchöpfen?
Oder der Ruf hat ihm Croton's Waſſerleitung als das achte Welt¬
wunder bezeichnet, er fährt eines Tags hinaus und will bewundern.
Aber unterwegs macht ſich ein kleiner zehnjähriger Souverain das
Vergnügen, ſeinen Revolver in den Wagen abzufeuern, die Kugel
dringt durch das Fenſter, ſtreift zuerſt eine Dame an den Kleidern,
ſchlägt dann einem gegenüberſitzenden Herrn, der zufällig ein Polizei-
Sergeant iſt, an die ſtählerne Tabaksdoſe in der Hoſentaſche, prallt
von dieſer ab, indem ſie noch etwas Fleiſch von der rechten Hand des
Poliziſten mitnimmt, berührt dann leiſe die Schulter ſeiner Nachbarin
und fällt zwiſchen dieſer und Moorfeld auf den Boden nieder. So
nahm jener Vergnügungsſchuß des freien und aufgeklärten Bürger-
Sprößlings noch einen unſchädlichen Verlauf, aber er hätte eben ſo
gut tödten können und der Gedanke, an Croton's Waſſerleitung als
Vergnügungs Leiche anzukommen, war doch gewiß nicht die beſte Vor¬
bereitung, um dieſes Wunderwerk eines freien und aufgeklärten Vol¬
kes zu würdigen. Oder unſer Freund wird aufmerkſam gemacht, ſich
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Kürnberger, Ferdinand: Der Amerika-Müde. Frankfurt (Main), 1855, S. 78. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kuernberger_amerikamuede_1855/96>, abgerufen am 24.11.2024.
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