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Kürnberger, Ferdinand: Der Amerika-Müde. Frankfurt (Main), 1855.

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Secten, die täglich entstehen und vergehen, anders, als das Suchen
nach einer nationalen Form der Religion?

Der Apotheker lächelte schalkhaft. Ich sah ihn befremdet an, da
hier zunächst kein Anlaß zur Heiterkeit gegeben war; der Doctor be¬
merkte Beides und gab mir mit der besten Miene folgende Erklärung:
Herr Poll denkt an meine gewesene Braut, jetzige Prophetin im Killany¬
thal. Wohlan, wenn Sie geneigt sind, ein Pröbchen von amerikanischer
Religionsmache zu hören -- die Geschichte ist diese: Ich hatte meine
Mina aus Deutschland mitgenommen, in der Absicht unsere Ehe zu
vollziehen, sobald mein Wirkungskreis ein gesicherter würde. In der
Dauer dieser Wartezeit verschwand mir auf einmal das Mädchen.
Niemand wußte, wohin? Sie hatte mir zwar Zeilen zurückgelassen von
entweder freiwilliger oder unfreiwilliger Mystik des Styls; genug, ich
konnte Alles drinn lesen, ich las aber, da ich überhaupt kein weib¬
liches Motiv einer solchen Flucht kenne, gar nichts darin. Ich zählte
das Mädchen zu jenen Entarteten, die den ungeheuren Uebergang von
der alten zur neuen Welt moralisch nicht bestehen, und vergaß sie.
Die Kleine hatte sich aber, in aller Stille gereift an der hiesigen
Humbugluft, folgendes Plänchen ausgedacht: Sie lief nach Philadelphia
und nahm Condition in einer Modewaarenhandlung. Da sie in ihren
neuen Verhältnissen nur deutsch sprach, so war die unterste Stelle,
die schlechteste Gage und eine demgemäße Behandlung ihr Loos. Dieses
Loos schien ihr sehr nahe zu gehen. Nach reicherer Sprachkenntniß sah
man sie das heftigste Verlangen tragen. Sie ließ sich berechnen, was
englische und französische Lectionen kosten möchten. Sie sparte mit
peinlicher Entsagung, verzweifelte an der Unzulänglichkeit ihrer Mittel,
raffte sich wieder auf, erlahmte von Neuem, man sah sie stundenlang
ihr Unglück beweinen, sie rief die Kraft der Religion zu Hilfe, warf
sich in die Arme der Conventikeln und Missionen, ja ihre Lippen fingen
oft mitten im Verkaufsladen zu beten an. Da rauscht eines Tags
ein glänzendes Bouquet von Aristokraten des "alten Landes" in ihren
Bazar. Herren und Damen, Kinder und Bediente bezaubern ihr Ohr
mit der Musik der heiß ersehnten Sprachen. Die arme deutsche Magd
lauscht wie auf das Säuseln der Gottheit. Ihr Herz schwillt, sie
vergißt sich, statt zu serviren, fängt sie zu beten an. Die Directrice
begegnet ihr streng, sie bricht in einen Thränenstrom aus. Die Directrice

Secten, die täglich entſtehen und vergehen, anders, als das Suchen
nach einer nationalen Form der Religion?

Der Apotheker lächelte ſchalkhaft. Ich ſah ihn befremdet an, da
hier zunächſt kein Anlaß zur Heiterkeit gegeben war; der Doctor be¬
merkte Beides und gab mir mit der beſten Miene folgende Erklärung:
Herr Poll denkt an meine geweſene Braut, jetzige Prophetin im Killany¬
thal. Wohlan, wenn Sie geneigt ſind, ein Pröbchen von amerikaniſcher
Religionsmache zu hören — die Geſchichte iſt dieſe: Ich hatte meine
Mina aus Deutſchland mitgenommen, in der Abſicht unſere Ehe zu
vollziehen, ſobald mein Wirkungskreis ein geſicherter würde. In der
Dauer dieſer Wartezeit verſchwand mir auf einmal das Mädchen.
Niemand wußte, wohin? Sie hatte mir zwar Zeilen zurückgelaſſen von
entweder freiwilliger oder unfreiwilliger Myſtik des Styls; genug, ich
konnte Alles drinn leſen, ich las aber, da ich überhaupt kein weib¬
liches Motiv einer ſolchen Flucht kenne, gar nichts darin. Ich zählte
das Mädchen zu jenen Entarteten, die den ungeheuren Uebergang von
der alten zur neuen Welt moraliſch nicht beſtehen, und vergaß ſie.
Die Kleine hatte ſich aber, in aller Stille gereift an der hieſigen
Humbugluft, folgendes Plänchen ausgedacht: Sie lief nach Philadelphia
und nahm Condition in einer Modewaarenhandlung. Da ſie in ihren
neuen Verhältniſſen nur deutſch ſprach, ſo war die unterſte Stelle,
die ſchlechteſte Gage und eine demgemäße Behandlung ihr Loos. Dieſes
Loos ſchien ihr ſehr nahe zu gehen. Nach reicherer Sprachkenntniß ſah
man ſie das heftigſte Verlangen tragen. Sie ließ ſich berechnen, was
engliſche und franzöſiſche Lectionen koſten möchten. Sie ſparte mit
peinlicher Entſagung, verzweifelte an der Unzulänglichkeit ihrer Mittel,
raffte ſich wieder auf, erlahmte von Neuem, man ſah ſie ſtundenlang
ihr Unglück beweinen, ſie rief die Kraft der Religion zu Hilfe, warf
ſich in die Arme der Conventikeln und Miſſionen, ja ihre Lippen fingen
oft mitten im Verkaufsladen zu beten an. Da rauſcht eines Tags
ein glänzendes Bouquet von Ariſtokraten des „alten Landes“ in ihren
Bazar. Herren und Damen, Kinder und Bediente bezaubern ihr Ohr
mit der Muſik der heiß erſehnten Sprachen. Die arme deutſche Magd
lauſcht wie auf das Säuſeln der Gottheit. Ihr Herz ſchwillt, ſie
vergißt ſich, ſtatt zu ſerviren, fängt ſie zu beten an. Die Directrice
begegnet ihr ſtreng, ſie bricht in einen Thränenſtrom aus. Die Directrice

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[390/0408] Secten, die täglich entſtehen und vergehen, anders, als das Suchen nach einer nationalen Form der Religion? Der Apotheker lächelte ſchalkhaft. Ich ſah ihn befremdet an, da hier zunächſt kein Anlaß zur Heiterkeit gegeben war; der Doctor be¬ merkte Beides und gab mir mit der beſten Miene folgende Erklärung: Herr Poll denkt an meine geweſene Braut, jetzige Prophetin im Killany¬ thal. Wohlan, wenn Sie geneigt ſind, ein Pröbchen von amerikaniſcher Religionsmache zu hören — die Geſchichte iſt dieſe: Ich hatte meine Mina aus Deutſchland mitgenommen, in der Abſicht unſere Ehe zu vollziehen, ſobald mein Wirkungskreis ein geſicherter würde. In der Dauer dieſer Wartezeit verſchwand mir auf einmal das Mädchen. Niemand wußte, wohin? Sie hatte mir zwar Zeilen zurückgelaſſen von entweder freiwilliger oder unfreiwilliger Myſtik des Styls; genug, ich konnte Alles drinn leſen, ich las aber, da ich überhaupt kein weib¬ liches Motiv einer ſolchen Flucht kenne, gar nichts darin. Ich zählte das Mädchen zu jenen Entarteten, die den ungeheuren Uebergang von der alten zur neuen Welt moraliſch nicht beſtehen, und vergaß ſie. Die Kleine hatte ſich aber, in aller Stille gereift an der hieſigen Humbugluft, folgendes Plänchen ausgedacht: Sie lief nach Philadelphia und nahm Condition in einer Modewaarenhandlung. Da ſie in ihren neuen Verhältniſſen nur deutſch ſprach, ſo war die unterſte Stelle, die ſchlechteſte Gage und eine demgemäße Behandlung ihr Loos. Dieſes Loos ſchien ihr ſehr nahe zu gehen. Nach reicherer Sprachkenntniß ſah man ſie das heftigſte Verlangen tragen. Sie ließ ſich berechnen, was engliſche und franzöſiſche Lectionen koſten möchten. Sie ſparte mit peinlicher Entſagung, verzweifelte an der Unzulänglichkeit ihrer Mittel, raffte ſich wieder auf, erlahmte von Neuem, man ſah ſie ſtundenlang ihr Unglück beweinen, ſie rief die Kraft der Religion zu Hilfe, warf ſich in die Arme der Conventikeln und Miſſionen, ja ihre Lippen fingen oft mitten im Verkaufsladen zu beten an. Da rauſcht eines Tags ein glänzendes Bouquet von Ariſtokraten des „alten Landes“ in ihren Bazar. Herren und Damen, Kinder und Bediente bezaubern ihr Ohr mit der Muſik der heiß erſehnten Sprachen. Die arme deutſche Magd lauſcht wie auf das Säuſeln der Gottheit. Ihr Herz ſchwillt, ſie vergißt ſich, ſtatt zu ſerviren, fängt ſie zu beten an. Die Directrice begegnet ihr ſtreng, ſie bricht in einen Thränenſtrom aus. Die Directrice

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Zitationshilfe: Kürnberger, Ferdinand: Der Amerika-Müde. Frankfurt (Main), 1855, S. 390. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kuernberger_amerikamuede_1855/408>, abgerufen am 24.11.2024.