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Krukenberg, Elsbeth: Die Frauenbewegung, ihre Ziele und ihre Bedeutung. Tübingen, 1905.

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herantritt. Genau so schädigend wie die Vernachlässigung kind-
licher Seelen ist das fortwährende mit dem Kinde Be-
schäftigtsein
, das störende Eingreifen in seine Eigenart, das
Herauszerren des Kindes aus ihm lieb gewordenenVorstellungen.

Jn ihrem liebenswürdigen Buch "Aus unseren vier Wän-
den" schildert Laura Frost solche Kinder, die erst durch
die Unvernunft der Erwachsenen zu unartigen Kindern ge-
macht werden. Und in besonders eindrucksvoller Weise ver-
tritt Ellen Key das Recht des Kindes auf ungestörte Ent-
wicklung. Sie ist uns, auch wenn ihre praktischen Reformvor-
schläge meist Traumbilder bleiben werden, die große Lehrmei-
sterin, die aus dem Kinde herauszuhorchen versteht, was Un-
bewußtes, Unausgesprochenes in seiner Seele lebt. Sie lehrt
uns Glück und Sehnen, lehrt uns die tiefe Qual der hilflos
dem Erzieher ausgelieferten Kinder.

Heilige Scheu vor dem Werden der kommenden Genera-
tion, das bedeutet trotzdem nicht willkürliches Gehenlassen.
Das bedeutet nur, daß man auch das Kind nicht, wie der
Mann es auch der Frau gegenüber so gern tat, als ein
Stück Eigentum, als willenlosen Besitz ansehen darf, mit dem
man schalten und walten darf ganz nach Belieben. Die Kin-
der wurden den Eltern zur Erziehung anvertraut. Sie, die
sie ins Leben riefen, haben die Pflicht, ihre Schritte auch wei-
ter zu lenken. Dann aber, ganz allmählich, wächst und er-
starkt das junge Geschöpf. Es wird innerlich selbständig, es
löst sich schließlich auch äußerlich von den Eltern. Das ist der
natürliche Gang der Entwicklung, den zu hemmen nicht gut tut.

Dem Knaben gegenüber haben wir das mehr und mehr
erkennen lernen. Das Recht des Kindes ist auch gesetzlich mehr
als früher geschützt. Aber der Tochter gegenüber können die
Mütter sich an solches Frei-Gehen-Lassen noch nicht gewöhnen.

herantritt. Genau so schädigend wie die Vernachlässigung kind-
licher Seelen ist das fortwährende mit dem Kinde Be-
schäftigtsein
, das störende Eingreifen in seine Eigenart, das
Herauszerren des Kindes aus ihm lieb gewordenenVorstellungen.

Jn ihrem liebenswürdigen Buch „Aus unseren vier Wän-
den“ schildert Laura Frost solche Kinder, die erst durch
die Unvernunft der Erwachsenen zu unartigen Kindern ge-
macht werden. Und in besonders eindrucksvoller Weise ver-
tritt Ellen Key das Recht des Kindes auf ungestörte Ent-
wicklung. Sie ist uns, auch wenn ihre praktischen Reformvor-
schläge meist Traumbilder bleiben werden, die große Lehrmei-
sterin, die aus dem Kinde herauszuhorchen versteht, was Un-
bewußtes, Unausgesprochenes in seiner Seele lebt. Sie lehrt
uns Glück und Sehnen, lehrt uns die tiefe Qual der hilflos
dem Erzieher ausgelieferten Kinder.

Heilige Scheu vor dem Werden der kommenden Genera-
tion, das bedeutet trotzdem nicht willkürliches Gehenlassen.
Das bedeutet nur, daß man auch das Kind nicht, wie der
Mann es auch der Frau gegenüber so gern tat, als ein
Stück Eigentum, als willenlosen Besitz ansehen darf, mit dem
man schalten und walten darf ganz nach Belieben. Die Kin-
der wurden den Eltern zur Erziehung anvertraut. Sie, die
sie ins Leben riefen, haben die Pflicht, ihre Schritte auch wei-
ter zu lenken. Dann aber, ganz allmählich, wächst und er-
starkt das junge Geschöpf. Es wird innerlich selbständig, es
löst sich schließlich auch äußerlich von den Eltern. Das ist der
natürliche Gang der Entwicklung, den zu hemmen nicht gut tut.

Dem Knaben gegenüber haben wir das mehr und mehr
erkennen lernen. Das Recht des Kindes ist auch gesetzlich mehr
als früher geschützt. Aber der Tochter gegenüber können die
Mütter sich an solches Frei-Gehen-Lassen noch nicht gewöhnen.

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[226/0236] herantritt. Genau so schädigend wie die Vernachlässigung kind- licher Seelen ist das fortwährende mit dem Kinde Be- schäftigtsein, das störende Eingreifen in seine Eigenart, das Herauszerren des Kindes aus ihm lieb gewordenenVorstellungen. Jn ihrem liebenswürdigen Buch „Aus unseren vier Wän- den“ schildert Laura Frost solche Kinder, die erst durch die Unvernunft der Erwachsenen zu unartigen Kindern ge- macht werden. Und in besonders eindrucksvoller Weise ver- tritt Ellen Key das Recht des Kindes auf ungestörte Ent- wicklung. Sie ist uns, auch wenn ihre praktischen Reformvor- schläge meist Traumbilder bleiben werden, die große Lehrmei- sterin, die aus dem Kinde herauszuhorchen versteht, was Un- bewußtes, Unausgesprochenes in seiner Seele lebt. Sie lehrt uns Glück und Sehnen, lehrt uns die tiefe Qual der hilflos dem Erzieher ausgelieferten Kinder. Heilige Scheu vor dem Werden der kommenden Genera- tion, das bedeutet trotzdem nicht willkürliches Gehenlassen. Das bedeutet nur, daß man auch das Kind nicht, wie der Mann es auch der Frau gegenüber so gern tat, als ein Stück Eigentum, als willenlosen Besitz ansehen darf, mit dem man schalten und walten darf ganz nach Belieben. Die Kin- der wurden den Eltern zur Erziehung anvertraut. Sie, die sie ins Leben riefen, haben die Pflicht, ihre Schritte auch wei- ter zu lenken. Dann aber, ganz allmählich, wächst und er- starkt das junge Geschöpf. Es wird innerlich selbständig, es löst sich schließlich auch äußerlich von den Eltern. Das ist der natürliche Gang der Entwicklung, den zu hemmen nicht gut tut. Dem Knaben gegenüber haben wir das mehr und mehr erkennen lernen. Das Recht des Kindes ist auch gesetzlich mehr als früher geschützt. Aber der Tochter gegenüber können die Mütter sich an solches Frei-Gehen-Lassen noch nicht gewöhnen.

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Texte der ersten Frauenbewegung, betreut von Anna Pfundt und Thomas Gloning, JLU Gießen: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-11-13T13:59:15Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Anna Pfundt: Bearbeitung der digitalen Edition. (2015-08-20T13:59:15Z)
Anna Pfundt: Konvertierung nach DTA-Basisformat. (2015-08-06T11:00:00Z)

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Zitationshilfe: Krukenberg, Elsbeth: Die Frauenbewegung, ihre Ziele und ihre Bedeutung. Tübingen, 1905, S. 226. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/krukenberg_frauenbewegung_1905/236>, abgerufen am 27.04.2024.