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Krukenberg, Elsbeth: Die Frauenbewegung, ihre Ziele und ihre Bedeutung. Tübingen, 1905.

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mal sollte jemand uns brauchen, uns das Gefühl geben,
daß auch wir ein Wert und Nutzen in der Welt sind. Bei
den Meisten war es wohl nicht das Gefühl sozialer Pflicht,
das uns gerade zu dieser Arbeit trieb; dieses Empfinden konnte
es auch garnicht sein; denn wir wußten nichts von sozialer
Pflicht, wie auch nichts von sozialer Not.

Auch der Aufruf, der uns zur Arbeit rief, und die erste
Gründungsversammlung mit ihren warmen und tiefen Anspra-
chen und Vorträgen hatten uns das nicht geben können. Die
Not des Lebens war eben noch niemals in irgend einer kon-
kreten Form an uns herangetreten, und so konnten die Worte,
die wir lasen und die wir hörten, von uns nicht begriffen
werden. Es gibt eben Dinge, die man im behaglichen Salon,
mit sattem Magen nicht nachempfinden kann.

Aber dann traten wir in die Arbeit ein, in die theo-
retische und in die praktische
, und dabei fanden wir
viel mehr, als wir erhofften. Jch denke an die ersten Vor-
tragskurse des Winters 1893, namentlich an die Vorträge von
Professor Weber über die Grundzüge der sozialen Entwicklung,
und weiter an die Vorträge von Frau Schwerin über Frauen-
pflichten im Haus und in der Gemeinde. Wer sich in diese
Zeit zurückversetzt, der wird sich der lebhaften Eindrücke und
tiefen Empfindungen erinnern, die in uns erweckt wurden.
Es war, als ob wir bis dahin in einem dunklen engen Ver-
schlag gelebt hatten, der durch einen undurchdringlichen Vor-
hang von weiten Räumen getrennt war, ohne daß wir ahnten,
daß solche Weiten vorhanden seien. Wir hatten unsern engen
Lebensraum als ein Ganzes, als das Ganze des Lebens und
der Welt betrachtet. - Jn jenen Stunden wurde der Vorhang
fortgezogen, und unserem Blick eröffnete sich die Welt, das
wirkliche Leben, die Beziehungen der Menschen zu einander,

mal sollte jemand uns brauchen, uns das Gefühl geben,
daß auch wir ein Wert und Nutzen in der Welt sind. Bei
den Meisten war es wohl nicht das Gefühl sozialer Pflicht,
das uns gerade zu dieser Arbeit trieb; dieses Empfinden konnte
es auch garnicht sein; denn wir wußten nichts von sozialer
Pflicht, wie auch nichts von sozialer Not.

Auch der Aufruf, der uns zur Arbeit rief, und die erste
Gründungsversammlung mit ihren warmen und tiefen Anspra-
chen und Vorträgen hatten uns das nicht geben können. Die
Not des Lebens war eben noch niemals in irgend einer kon-
kreten Form an uns herangetreten, und so konnten die Worte,
die wir lasen und die wir hörten, von uns nicht begriffen
werden. Es gibt eben Dinge, die man im behaglichen Salon,
mit sattem Magen nicht nachempfinden kann.

Aber dann traten wir in die Arbeit ein, in die theo-
retische und in die praktische
, und dabei fanden wir
viel mehr, als wir erhofften. Jch denke an die ersten Vor-
tragskurse des Winters 1893, namentlich an die Vorträge von
Professor Weber über die Grundzüge der sozialen Entwicklung,
und weiter an die Vorträge von Frau Schwerin über Frauen-
pflichten im Haus und in der Gemeinde. Wer sich in diese
Zeit zurückversetzt, der wird sich der lebhaften Eindrücke und
tiefen Empfindungen erinnern, die in uns erweckt wurden.
Es war, als ob wir bis dahin in einem dunklen engen Ver-
schlag gelebt hatten, der durch einen undurchdringlichen Vor-
hang von weiten Räumen getrennt war, ohne daß wir ahnten,
daß solche Weiten vorhanden seien. Wir hatten unsern engen
Lebensraum als ein Ganzes, als das Ganze des Lebens und
der Welt betrachtet. – Jn jenen Stunden wurde der Vorhang
fortgezogen, und unserem Blick eröffnete sich die Welt, das
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[137/0147] mal sollte jemand uns brauchen, uns das Gefühl geben, daß auch wir ein Wert und Nutzen in der Welt sind. Bei den Meisten war es wohl nicht das Gefühl sozialer Pflicht, das uns gerade zu dieser Arbeit trieb; dieses Empfinden konnte es auch garnicht sein; denn wir wußten nichts von sozialer Pflicht, wie auch nichts von sozialer Not. Auch der Aufruf, der uns zur Arbeit rief, und die erste Gründungsversammlung mit ihren warmen und tiefen Anspra- chen und Vorträgen hatten uns das nicht geben können. Die Not des Lebens war eben noch niemals in irgend einer kon- kreten Form an uns herangetreten, und so konnten die Worte, die wir lasen und die wir hörten, von uns nicht begriffen werden. Es gibt eben Dinge, die man im behaglichen Salon, mit sattem Magen nicht nachempfinden kann. Aber dann traten wir in die Arbeit ein, in die theo- retische und in die praktische, und dabei fanden wir viel mehr, als wir erhofften. Jch denke an die ersten Vor- tragskurse des Winters 1893, namentlich an die Vorträge von Professor Weber über die Grundzüge der sozialen Entwicklung, und weiter an die Vorträge von Frau Schwerin über Frauen- pflichten im Haus und in der Gemeinde. Wer sich in diese Zeit zurückversetzt, der wird sich der lebhaften Eindrücke und tiefen Empfindungen erinnern, die in uns erweckt wurden. Es war, als ob wir bis dahin in einem dunklen engen Ver- schlag gelebt hatten, der durch einen undurchdringlichen Vor- hang von weiten Räumen getrennt war, ohne daß wir ahnten, daß solche Weiten vorhanden seien. Wir hatten unsern engen Lebensraum als ein Ganzes, als das Ganze des Lebens und der Welt betrachtet. – Jn jenen Stunden wurde der Vorhang fortgezogen, und unserem Blick eröffnete sich die Welt, das wirkliche Leben, die Beziehungen der Menschen zu einander,

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Texte der ersten Frauenbewegung, betreut von Anna Pfundt und Thomas Gloning, JLU Gießen: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-11-13T13:59:15Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
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Zitationshilfe: Krukenberg, Elsbeth: Die Frauenbewegung, ihre Ziele und ihre Bedeutung. Tübingen, 1905, S. 137. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/krukenberg_frauenbewegung_1905/147>, abgerufen am 09.05.2024.