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Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888.

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und wieder fühlte er das Bedürfniß, spät Abends sein Haus
zu verlassen und in einem entlegenen Stadttheil ein unter¬
geordnetes Lokal aufzusuchen, wo man ihn nicht kannte. Er
wollte wenigstens wissen, ob er noch lebe, ob er noch ein
menschliches Antlitz trage und die Sprache Anderer verstehe.
Dann war es auch der Hunger, der ihn hinaustrieb, der Ge¬
danke an ein behagliches Zimmer voller Lärm und Fröhlichkeit.

Mitte Januar bereits fand die Subhastation seines
Grundstücks statt. Der Hypothekeninhaber erwarb es meist¬
bietend und Timpe sollte sein Haus verlassen. Um dieselbe
Zeit war es, daß er durch eine Anklage wegen Aufreizung
zum Klassenhaß überrascht wurde. Er beachtete weder das
Eine noch das Andere, aber er sah nun jedem neuen Tag
entgegen, wie ein Mensch, der einen plötzlichen wohlthuenden
Tod erwartet. Als er aller Aufforderung ungeachtet immer
noch nicht Miene zeigte, dem neuen Besitzer seine Rechte ab¬
zutreten, wurde ihm Ende des Monats mit Gewaltmaßregeln
gedroht, so daß er sich genöthigt sah, um Nachsicht zu bitten.
Er werde in einigen Tagen das Haus verlassen.

Es war am späten Sonntagnachmittag, als Johannes
die Luft im Zimmer nicht mehr ertragen konnte. Bei be¬
ginnender Dunkelheit schlich er zum Hause hinaus und irrte
ziellos durch die Straßen. Ein Druck unendlicher Einsamkeit
lastete auf ihm, den er von sich wälzen mußte, wollte er
nicht ersticken. Er kam sich wie ein Delinquent vor, dessen
letztes Stündlein geschlagen hat und dem noch einmal ver¬
gönnt worden ist an den lachenden Gesichtern einer geputzten
Sonntagsmenge, an den erleuchteten Schaufenstern, an all'
dem rauschenden Glanze Berlins sich erfreuen. Und ertönte
nicht auch soeben das Armensünderglöcklein? Seine Phan¬

und wieder fühlte er das Bedürfniß, ſpät Abends ſein Haus
zu verlaſſen und in einem entlegenen Stadttheil ein unter¬
geordnetes Lokal aufzuſuchen, wo man ihn nicht kannte. Er
wollte wenigſtens wiſſen, ob er noch lebe, ob er noch ein
menſchliches Antlitz trage und die Sprache Anderer verſtehe.
Dann war es auch der Hunger, der ihn hinaustrieb, der Ge¬
danke an ein behagliches Zimmer voller Lärm und Fröhlichkeit.

Mitte Januar bereits fand die Subhaſtation ſeines
Grundſtücks ſtatt. Der Hypothekeninhaber erwarb es meiſt¬
bietend und Timpe ſollte ſein Haus verlaſſen. Um dieſelbe
Zeit war es, daß er durch eine Anklage wegen Aufreizung
zum Klaſſenhaß überraſcht wurde. Er beachtete weder das
Eine noch das Andere, aber er ſah nun jedem neuen Tag
entgegen, wie ein Menſch, der einen plötzlichen wohlthuenden
Tod erwartet. Als er aller Aufforderung ungeachtet immer
noch nicht Miene zeigte, dem neuen Beſitzer ſeine Rechte ab¬
zutreten, wurde ihm Ende des Monats mit Gewaltmaßregeln
gedroht, ſo daß er ſich genöthigt ſah, um Nachſicht zu bitten.
Er werde in einigen Tagen das Haus verlaſſen.

Es war am ſpäten Sonntagnachmittag, als Johannes
die Luft im Zimmer nicht mehr ertragen konnte. Bei be¬
ginnender Dunkelheit ſchlich er zum Hauſe hinaus und irrte
ziellos durch die Straßen. Ein Druck unendlicher Einſamkeit
laſtete auf ihm, den er von ſich wälzen mußte, wollte er
nicht erſticken. Er kam ſich wie ein Delinquent vor, deſſen
letztes Stündlein geſchlagen hat und dem noch einmal ver¬
gönnt worden iſt an den lachenden Geſichtern einer geputzten
Sonntagsmenge, an den erleuchteten Schaufenſtern, an all'
dem rauſchenden Glanze Berlins ſich erfreuen. Und ertönte
nicht auch ſoeben das Armenſünderglöcklein? Seine Phan¬

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[319/0331] und wieder fühlte er das Bedürfniß, ſpät Abends ſein Haus zu verlaſſen und in einem entlegenen Stadttheil ein unter¬ geordnetes Lokal aufzuſuchen, wo man ihn nicht kannte. Er wollte wenigſtens wiſſen, ob er noch lebe, ob er noch ein menſchliches Antlitz trage und die Sprache Anderer verſtehe. Dann war es auch der Hunger, der ihn hinaustrieb, der Ge¬ danke an ein behagliches Zimmer voller Lärm und Fröhlichkeit. Mitte Januar bereits fand die Subhaſtation ſeines Grundſtücks ſtatt. Der Hypothekeninhaber erwarb es meiſt¬ bietend und Timpe ſollte ſein Haus verlaſſen. Um dieſelbe Zeit war es, daß er durch eine Anklage wegen Aufreizung zum Klaſſenhaß überraſcht wurde. Er beachtete weder das Eine noch das Andere, aber er ſah nun jedem neuen Tag entgegen, wie ein Menſch, der einen plötzlichen wohlthuenden Tod erwartet. Als er aller Aufforderung ungeachtet immer noch nicht Miene zeigte, dem neuen Beſitzer ſeine Rechte ab¬ zutreten, wurde ihm Ende des Monats mit Gewaltmaßregeln gedroht, ſo daß er ſich genöthigt ſah, um Nachſicht zu bitten. Er werde in einigen Tagen das Haus verlaſſen. Es war am ſpäten Sonntagnachmittag, als Johannes die Luft im Zimmer nicht mehr ertragen konnte. Bei be¬ ginnender Dunkelheit ſchlich er zum Hauſe hinaus und irrte ziellos durch die Straßen. Ein Druck unendlicher Einſamkeit laſtete auf ihm, den er von ſich wälzen mußte, wollte er nicht erſticken. Er kam ſich wie ein Delinquent vor, deſſen letztes Stündlein geſchlagen hat und dem noch einmal ver¬ gönnt worden iſt an den lachenden Geſichtern einer geputzten Sonntagsmenge, an den erleuchteten Schaufenſtern, an all' dem rauſchenden Glanze Berlins ſich erfreuen. Und ertönte nicht auch ſoeben das Armenſünderglöcklein? Seine Phan¬

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Zitationshilfe: Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888, S. 319. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888/331>, abgerufen am 22.11.2024.