Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888.

Bild:
<< vorherige Seite

unter die Streikenden getreten, um ihnen Ferdinand Friedrich
Urban bis auf die spitze Nase so eindringlich zu schildern, daß
sie ihn aus dem F. F. kennen gelernt hätten. Er empfand
ordentlich Lust, irgend eine Heldenthat zu begehen; diesen
armen Leuten dort, die vielleicht nicht wußten, wo
sie am andern Tage das Brod zum lieben Leben
herbekommen sollten, seinen eigenen Untergang vor
Augen zu halten, ihnen den Fluch der Armuth
und die Macht des Kapitals in glühenden Farben zu schildern,
sie zum Ungehorsam gegen die Gesetze aufzufordern, Worte
der Empörung in ihre Reihen zu schleudern. War er denn
jetzt mehr als sie, stand ihm nicht dasselbe Schicksal bevor:
gleich ihnen mit der Blechkanne in der Hand des Morgens
nach irgend einer Fabrik zu gehen, um als lebende Maschine
in der Legion der Enterbten sein Tagewerk zu verrichten?
O, er war nahe daran, die Grausamkeit des Lebens bis zum
letzten Tropfen zu durchkosten! Es kochte förmlich in ihm,
er fühlte, wie die Zunge sich im nächsten Augenblick lösen
würde, um alles das, was er dachte, in die Massen hinein¬
zuschreien.

Aber er kam nicht dazu. Einige junge Burschen hatten
ihn erblickt, wiesen auf ihn hin und schienen sich allem
Anschein nach über ihn lustig zu machen. Eine Gruppe
bildete sich und hundert Köpfe wandten sich nach ihm. Viele
traten bis an den Zaun heran und gafften zu ihm wie
zu einem Wunderthier empor. Timpe ließ sich sehen? Das
war neu.

Ein junger bartloser Mensch, der kaum die Lehrlings¬
schuhe ausgezogen haben konnte und dem die Skandal¬
sucht im Gesicht geschrieben stand, rief dann plötzlich laut:

unter die Streikenden getreten, um ihnen Ferdinand Friedrich
Urban bis auf die ſpitze Naſe ſo eindringlich zu ſchildern, daß
ſie ihn aus dem F. F. kennen gelernt hätten. Er empfand
ordentlich Luſt, irgend eine Heldenthat zu begehen; dieſen
armen Leuten dort, die vielleicht nicht wußten, wo
ſie am andern Tage das Brod zum lieben Leben
herbekommen ſollten, ſeinen eigenen Untergang vor
Augen zu halten, ihnen den Fluch der Armuth
und die Macht des Kapitals in glühenden Farben zu ſchildern,
ſie zum Ungehorſam gegen die Geſetze aufzufordern, Worte
der Empörung in ihre Reihen zu ſchleudern. War er denn
jetzt mehr als ſie, ſtand ihm nicht daſſelbe Schickſal bevor:
gleich ihnen mit der Blechkanne in der Hand des Morgens
nach irgend einer Fabrik zu gehen, um als lebende Maſchine
in der Legion der Enterbten ſein Tagewerk zu verrichten?
O, er war nahe daran, die Grauſamkeit des Lebens bis zum
letzten Tropfen zu durchkoſten! Es kochte förmlich in ihm,
er fühlte, wie die Zunge ſich im nächſten Augenblick löſen
würde, um alles das, was er dachte, in die Maſſen hinein¬
zuſchreien.

Aber er kam nicht dazu. Einige junge Burſchen hatten
ihn erblickt, wieſen auf ihn hin und ſchienen ſich allem
Anſchein nach über ihn luſtig zu machen. Eine Gruppe
bildete ſich und hundert Köpfe wandten ſich nach ihm. Viele
traten bis an den Zaun heran und gafften zu ihm wie
zu einem Wunderthier empor. Timpe ließ ſich ſehen? Das
war neu.

Ein junger bartloſer Menſch, der kaum die Lehrlings¬
ſchuhe ausgezogen haben konnte und dem die Skandal¬
ſucht im Geſicht geſchrieben ſtand, rief dann plötzlich laut:

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0290" n="278"/>
unter die Streikenden getreten, um ihnen Ferdinand Friedrich<lb/>
Urban bis auf die &#x017F;pitze Na&#x017F;e &#x017F;o eindringlich zu &#x017F;childern, daß<lb/>
&#x017F;ie ihn aus dem F. F. kennen gelernt hätten. Er empfand<lb/>
ordentlich Lu&#x017F;t, irgend eine Heldenthat zu begehen; die&#x017F;en<lb/>
armen Leuten dort, die vielleicht nicht wußten, wo<lb/>
&#x017F;ie am andern Tage das Brod zum lieben Leben<lb/>
herbekommen &#x017F;ollten, &#x017F;einen eigenen Untergang vor<lb/>
Augen zu halten, ihnen den Fluch der Armuth<lb/>
und die Macht des Kapitals in glühenden Farben zu &#x017F;childern,<lb/>
&#x017F;ie zum Ungehor&#x017F;am gegen die Ge&#x017F;etze aufzufordern, Worte<lb/>
der Empörung in ihre Reihen zu &#x017F;chleudern. War er denn<lb/>
jetzt mehr als &#x017F;ie, &#x017F;tand ihm nicht da&#x017F;&#x017F;elbe Schick&#x017F;al bevor:<lb/>
gleich ihnen mit der Blechkanne in der Hand des Morgens<lb/>
nach irgend einer Fabrik zu gehen, um als lebende Ma&#x017F;chine<lb/>
in der Legion der Enterbten &#x017F;ein Tagewerk zu verrichten?<lb/>
O, er war nahe daran, die Grau&#x017F;amkeit des Lebens bis zum<lb/>
letzten Tropfen zu durchko&#x017F;ten! Es kochte förmlich in ihm,<lb/>
er fühlte, wie die Zunge &#x017F;ich im näch&#x017F;ten Augenblick lö&#x017F;en<lb/>
würde, um alles das, was er dachte, in die Ma&#x017F;&#x017F;en hinein¬<lb/>
zu&#x017F;chreien.</p><lb/>
        <p>Aber er kam nicht dazu. Einige junge Bur&#x017F;chen hatten<lb/>
ihn erblickt, wie&#x017F;en auf ihn hin und &#x017F;chienen &#x017F;ich allem<lb/>
An&#x017F;chein nach über ihn lu&#x017F;tig zu machen. Eine Gruppe<lb/>
bildete &#x017F;ich und hundert Köpfe wandten &#x017F;ich nach ihm. Viele<lb/>
traten bis an den Zaun heran und gafften zu ihm wie<lb/>
zu einem Wunderthier empor. Timpe ließ &#x017F;ich &#x017F;ehen? Das<lb/>
war neu.</p><lb/>
        <p>Ein junger bartlo&#x017F;er Men&#x017F;ch, der kaum die Lehrlings¬<lb/>
&#x017F;chuhe ausgezogen haben konnte und dem die Skandal¬<lb/>
&#x017F;ucht im Ge&#x017F;icht ge&#x017F;chrieben &#x017F;tand, rief dann plötzlich laut:<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[278/0290] unter die Streikenden getreten, um ihnen Ferdinand Friedrich Urban bis auf die ſpitze Naſe ſo eindringlich zu ſchildern, daß ſie ihn aus dem F. F. kennen gelernt hätten. Er empfand ordentlich Luſt, irgend eine Heldenthat zu begehen; dieſen armen Leuten dort, die vielleicht nicht wußten, wo ſie am andern Tage das Brod zum lieben Leben herbekommen ſollten, ſeinen eigenen Untergang vor Augen zu halten, ihnen den Fluch der Armuth und die Macht des Kapitals in glühenden Farben zu ſchildern, ſie zum Ungehorſam gegen die Geſetze aufzufordern, Worte der Empörung in ihre Reihen zu ſchleudern. War er denn jetzt mehr als ſie, ſtand ihm nicht daſſelbe Schickſal bevor: gleich ihnen mit der Blechkanne in der Hand des Morgens nach irgend einer Fabrik zu gehen, um als lebende Maſchine in der Legion der Enterbten ſein Tagewerk zu verrichten? O, er war nahe daran, die Grauſamkeit des Lebens bis zum letzten Tropfen zu durchkoſten! Es kochte förmlich in ihm, er fühlte, wie die Zunge ſich im nächſten Augenblick löſen würde, um alles das, was er dachte, in die Maſſen hinein¬ zuſchreien. Aber er kam nicht dazu. Einige junge Burſchen hatten ihn erblickt, wieſen auf ihn hin und ſchienen ſich allem Anſchein nach über ihn luſtig zu machen. Eine Gruppe bildete ſich und hundert Köpfe wandten ſich nach ihm. Viele traten bis an den Zaun heran und gafften zu ihm wie zu einem Wunderthier empor. Timpe ließ ſich ſehen? Das war neu. Ein junger bartloſer Menſch, der kaum die Lehrlings¬ ſchuhe ausgezogen haben konnte und dem die Skandal¬ ſucht im Geſicht geſchrieben ſtand, rief dann plötzlich laut:

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888/290
Zitationshilfe: Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888, S. 278. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888/290>, abgerufen am 17.05.2024.