Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888.

Bild:
<< vorherige Seite

belauscht wähnend vor dem Lehnstuhl stand, auf dem die Ver¬
blichene sich auszuruhen pflegte; er machte eine Miene, als
säße die Meisterin noch lebend da und blicke zu ihm empor.
Oder Timpe betrachtete lange mit gefalteten Händen ihr
Bild, das an der Wand über dem silbernen Myrthenkranz
hing. Ja, als Thomas wieder einmal leise die Thür ge¬
öffnet hatte, beobachtete er, wie der Alte mit einem Ausdruck
von Zärtlichkeit den auf einem Riegel hängenden Hausrock
der Verstorbenen streichelte und einen Kuß auf ihn drückte.

Der Altgeselle hielt Timpe nun wirklich für gemüthkrank
und knüpfte oft absichtlich ein Gespräch mit ihm an, um sich
von der Krankheit zu überzeugen. Zu seinem Erstaunen ant¬
wortete der Meister völlig vernünftig, aber er brachte eine
Sanftmuth entgegen, die man in den letzten Jahren an ihm
nicht mehr bemerkt hatte. Was der Altgeselle für beginnenden
Irrsinn hielt, war nur eine hochgradige Seelenerschütterung:
die Aeußerung eines tiefgebeugten Geistes, der sich in sich selbst
verschließt und sein fürchterliches Unglück erst allmälig begreift.

Timpe nahm nur wenige Speisen zu sich, trotzdem der
Lehrling sie regelmäßig aus der Nähe herbeiholte. Der Alt¬
geselle sah ein, daß das nicht weiter gehen könne. Am vierten
Tage brachte er in aller Frühe seine Schwester mit. Sie
blieb nun den ganzen Tag über im Hause, kochte für Meister
und Lehrling und brachte ihm die Wirthschaft in Ordnung.
Timpe wandte kein Wort dagegen ein. Er fand das so
natürlich, daß er nicht einmal dafür dankte. Nur mußten
Thomas und Marie mit ihm am selben Tische essen.

"Aber nicht für Ihr Geld, Meister . . . dann sind wir
damit einverstanden", sagte der Altgeselle kurz und bündig
wie immer.

belauſcht wähnend vor dem Lehnſtuhl ſtand, auf dem die Ver¬
blichene ſich auszuruhen pflegte; er machte eine Miene, als
ſäße die Meiſterin noch lebend da und blicke zu ihm empor.
Oder Timpe betrachtete lange mit gefalteten Händen ihr
Bild, das an der Wand über dem ſilbernen Myrthenkranz
hing. Ja, als Thomas wieder einmal leiſe die Thür ge¬
öffnet hatte, beobachtete er, wie der Alte mit einem Ausdruck
von Zärtlichkeit den auf einem Riegel hängenden Hausrock
der Verſtorbenen ſtreichelte und einen Kuß auf ihn drückte.

Der Altgeſelle hielt Timpe nun wirklich für gemüthkrank
und knüpfte oft abſichtlich ein Geſpräch mit ihm an, um ſich
von der Krankheit zu überzeugen. Zu ſeinem Erſtaunen ant¬
wortete der Meiſter völlig vernünftig, aber er brachte eine
Sanftmuth entgegen, die man in den letzten Jahren an ihm
nicht mehr bemerkt hatte. Was der Altgeſelle für beginnenden
Irrſinn hielt, war nur eine hochgradige Seelenerſchütterung:
die Aeußerung eines tiefgebeugten Geiſtes, der ſich in ſich ſelbſt
verſchließt und ſein fürchterliches Unglück erſt allmälig begreift.

Timpe nahm nur wenige Speiſen zu ſich, trotzdem der
Lehrling ſie regelmäßig aus der Nähe herbeiholte. Der Alt¬
geſelle ſah ein, daß das nicht weiter gehen könne. Am vierten
Tage brachte er in aller Frühe ſeine Schweſter mit. Sie
blieb nun den ganzen Tag über im Hauſe, kochte für Meiſter
und Lehrling und brachte ihm die Wirthſchaft in Ordnung.
Timpe wandte kein Wort dagegen ein. Er fand das ſo
natürlich, daß er nicht einmal dafür dankte. Nur mußten
Thomas und Marie mit ihm am ſelben Tiſche eſſen.

„Aber nicht für Ihr Geld, Meiſter . . . dann ſind wir
damit einverſtanden“, ſagte der Altgeſelle kurz und bündig
wie immer.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0266" n="254"/>
belau&#x017F;cht wähnend vor dem Lehn&#x017F;tuhl &#x017F;tand, auf dem die Ver¬<lb/>
blichene &#x017F;ich auszuruhen pflegte; er machte eine Miene, als<lb/>
&#x017F;äße die Mei&#x017F;terin noch lebend da und blicke zu ihm empor.<lb/>
Oder Timpe betrachtete lange mit gefalteten Händen ihr<lb/>
Bild, das an der Wand über dem &#x017F;ilbernen Myrthenkranz<lb/>
hing. Ja, als Thomas wieder einmal lei&#x017F;e die Thür ge¬<lb/>
öffnet hatte, beobachtete er, wie der Alte mit einem Ausdruck<lb/>
von Zärtlichkeit den auf einem Riegel hängenden Hausrock<lb/>
der Ver&#x017F;torbenen &#x017F;treichelte und einen Kuß auf ihn drückte.</p><lb/>
        <p>Der Altge&#x017F;elle hielt Timpe nun wirklich für gemüthkrank<lb/>
und knüpfte oft ab&#x017F;ichtlich ein Ge&#x017F;präch mit ihm an, um &#x017F;ich<lb/>
von der Krankheit zu überzeugen. Zu &#x017F;einem Er&#x017F;taunen ant¬<lb/>
wortete der Mei&#x017F;ter völlig vernünftig, aber er brachte eine<lb/>
Sanftmuth entgegen, die man in den letzten Jahren an ihm<lb/>
nicht mehr bemerkt hatte. Was der Altge&#x017F;elle für beginnenden<lb/>
Irr&#x017F;inn hielt, war nur eine hochgradige Seelener&#x017F;chütterung:<lb/>
die Aeußerung eines tiefgebeugten Gei&#x017F;tes, der &#x017F;ich in &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
ver&#x017F;chließt und &#x017F;ein fürchterliches Unglück er&#x017F;t allmälig begreift.</p><lb/>
        <p>Timpe nahm nur wenige Spei&#x017F;en zu &#x017F;ich, trotzdem der<lb/>
Lehrling &#x017F;ie regelmäßig aus der Nähe herbeiholte. Der Alt¬<lb/>
ge&#x017F;elle &#x017F;ah ein, daß das nicht weiter gehen könne. Am vierten<lb/>
Tage brachte er in aller Frühe &#x017F;eine Schwe&#x017F;ter mit. Sie<lb/>
blieb nun den ganzen Tag über im Hau&#x017F;e, kochte für Mei&#x017F;ter<lb/>
und Lehrling und brachte ihm die Wirth&#x017F;chaft in Ordnung.<lb/>
Timpe wandte kein Wort dagegen ein. Er fand das &#x017F;o<lb/>
natürlich, daß er nicht einmal dafür dankte. Nur mußten<lb/>
Thomas und Marie mit ihm am &#x017F;elben Ti&#x017F;che e&#x017F;&#x017F;en.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Aber nicht für Ihr Geld, Mei&#x017F;ter . . . dann &#x017F;ind wir<lb/>
damit einver&#x017F;tanden&#x201C;, &#x017F;agte der Altge&#x017F;elle kurz und bündig<lb/>
wie immer.</p><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[254/0266] belauſcht wähnend vor dem Lehnſtuhl ſtand, auf dem die Ver¬ blichene ſich auszuruhen pflegte; er machte eine Miene, als ſäße die Meiſterin noch lebend da und blicke zu ihm empor. Oder Timpe betrachtete lange mit gefalteten Händen ihr Bild, das an der Wand über dem ſilbernen Myrthenkranz hing. Ja, als Thomas wieder einmal leiſe die Thür ge¬ öffnet hatte, beobachtete er, wie der Alte mit einem Ausdruck von Zärtlichkeit den auf einem Riegel hängenden Hausrock der Verſtorbenen ſtreichelte und einen Kuß auf ihn drückte. Der Altgeſelle hielt Timpe nun wirklich für gemüthkrank und knüpfte oft abſichtlich ein Geſpräch mit ihm an, um ſich von der Krankheit zu überzeugen. Zu ſeinem Erſtaunen ant¬ wortete der Meiſter völlig vernünftig, aber er brachte eine Sanftmuth entgegen, die man in den letzten Jahren an ihm nicht mehr bemerkt hatte. Was der Altgeſelle für beginnenden Irrſinn hielt, war nur eine hochgradige Seelenerſchütterung: die Aeußerung eines tiefgebeugten Geiſtes, der ſich in ſich ſelbſt verſchließt und ſein fürchterliches Unglück erſt allmälig begreift. Timpe nahm nur wenige Speiſen zu ſich, trotzdem der Lehrling ſie regelmäßig aus der Nähe herbeiholte. Der Alt¬ geſelle ſah ein, daß das nicht weiter gehen könne. Am vierten Tage brachte er in aller Frühe ſeine Schweſter mit. Sie blieb nun den ganzen Tag über im Hauſe, kochte für Meiſter und Lehrling und brachte ihm die Wirthſchaft in Ordnung. Timpe wandte kein Wort dagegen ein. Er fand das ſo natürlich, daß er nicht einmal dafür dankte. Nur mußten Thomas und Marie mit ihm am ſelben Tiſche eſſen. „Aber nicht für Ihr Geld, Meiſter . . . dann ſind wir damit einverſtanden“, ſagte der Altgeſelle kurz und bündig wie immer.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888/266
Zitationshilfe: Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888, S. 254. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888/266>, abgerufen am 25.11.2024.