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Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888.

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Marie Beyer war ein hageres, verblühtes Geschöpf.
Ihr Gesicht war von durchsichtiger Blässe, als käme sie direkt
aus den Sälen eines Krankenhauses. Sie lächelte selten und
machte den Eindruck, als hätte sie auf das Glück in der Welt
verzichtet. Dafür entwickelte sie eine seltene Energie. Sie
übernahm sofort die wirthschaftlichen Angelegenheiten, kochte,
brachte die Zimmer in Ordnung und spielte mit der Hin¬
gebung eines hochherzigen Mädchens die Wärterin. Der
Meister ließ sich von ihr wie ein Kind behandeln. Auf
einen Wink von ihr ging er aus dem Zimmer und bevor er
an das Krankenbett trat, fragte er leise, ob er es dürfe.
Sie duldete nicht, daß er des Nachts wachte, sondern löste
sich darin mit ihrem Bruder ab. Stundenlang hielt sie die
Hand der Leidenden, die fast keine Speise mehr zu sich
nehmen konnte, in der ihrigen und sprach ihr in sanften
Worten Trost und Muth zu. Karolinen's seelische Schmerzen
überwogen die körperlichen. Ihre Gedanken waren fort¬
während bei ihrem Sohne. Einmal äußerte sie zu Marie,
daß sie ihn zu sehen wünsche. Als aber diese sofort hinzu¬
schicken versprach, strengte sie ihre Stimme so viel als möglich
an, um sie wieder davon abzubringen.

"Thun Sie es lieber nicht, es könnte schrecklich für meinen
Mann werden. Franz hat schlecht an uns gehandelt . . . er
ist ein gewissenloses Kind . . . . ich kann seinem Vater nicht
Unrecht geben."

Als sie dann eines Abends still und gottergeben, um¬
ringt von den Geschwistern und ihrem Manne, die Augen
für immer schloß, war das letzte Wort, das sie hinhauchte,
der Name ihres Sohnes.

Johannes war von dem Ableben seines Weibes so nieder¬

Marie Beyer war ein hageres, verblühtes Geſchöpf.
Ihr Geſicht war von durchſichtiger Bläſſe, als käme ſie direkt
aus den Sälen eines Krankenhauſes. Sie lächelte ſelten und
machte den Eindruck, als hätte ſie auf das Glück in der Welt
verzichtet. Dafür entwickelte ſie eine ſeltene Energie. Sie
übernahm ſofort die wirthſchaftlichen Angelegenheiten, kochte,
brachte die Zimmer in Ordnung und ſpielte mit der Hin¬
gebung eines hochherzigen Mädchens die Wärterin. Der
Meiſter ließ ſich von ihr wie ein Kind behandeln. Auf
einen Wink von ihr ging er aus dem Zimmer und bevor er
an das Krankenbett trat, fragte er leiſe, ob er es dürfe.
Sie duldete nicht, daß er des Nachts wachte, ſondern löſte
ſich darin mit ihrem Bruder ab. Stundenlang hielt ſie die
Hand der Leidenden, die faſt keine Speiſe mehr zu ſich
nehmen konnte, in der ihrigen und ſprach ihr in ſanften
Worten Troſt und Muth zu. Karolinen's ſeeliſche Schmerzen
überwogen die körperlichen. Ihre Gedanken waren fort¬
während bei ihrem Sohne. Einmal äußerte ſie zu Marie,
daß ſie ihn zu ſehen wünſche. Als aber dieſe ſofort hinzu¬
ſchicken verſprach, ſtrengte ſie ihre Stimme ſo viel als möglich
an, um ſie wieder davon abzubringen.

„Thun Sie es lieber nicht, es könnte ſchrecklich für meinen
Mann werden. Franz hat ſchlecht an uns gehandelt . . . er
iſt ein gewiſſenloſes Kind . . . . ich kann ſeinem Vater nicht
Unrecht geben.“

Als ſie dann eines Abends ſtill und gottergeben, um¬
ringt von den Geſchwiſtern und ihrem Manne, die Augen
für immer ſchloß, war das letzte Wort, das ſie hinhauchte,
der Name ihres Sohnes.

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[247/0259] Marie Beyer war ein hageres, verblühtes Geſchöpf. Ihr Geſicht war von durchſichtiger Bläſſe, als käme ſie direkt aus den Sälen eines Krankenhauſes. Sie lächelte ſelten und machte den Eindruck, als hätte ſie auf das Glück in der Welt verzichtet. Dafür entwickelte ſie eine ſeltene Energie. Sie übernahm ſofort die wirthſchaftlichen Angelegenheiten, kochte, brachte die Zimmer in Ordnung und ſpielte mit der Hin¬ gebung eines hochherzigen Mädchens die Wärterin. Der Meiſter ließ ſich von ihr wie ein Kind behandeln. Auf einen Wink von ihr ging er aus dem Zimmer und bevor er an das Krankenbett trat, fragte er leiſe, ob er es dürfe. Sie duldete nicht, daß er des Nachts wachte, ſondern löſte ſich darin mit ihrem Bruder ab. Stundenlang hielt ſie die Hand der Leidenden, die faſt keine Speiſe mehr zu ſich nehmen konnte, in der ihrigen und ſprach ihr in ſanften Worten Troſt und Muth zu. Karolinen's ſeeliſche Schmerzen überwogen die körperlichen. Ihre Gedanken waren fort¬ während bei ihrem Sohne. Einmal äußerte ſie zu Marie, daß ſie ihn zu ſehen wünſche. Als aber dieſe ſofort hinzu¬ ſchicken verſprach, ſtrengte ſie ihre Stimme ſo viel als möglich an, um ſie wieder davon abzubringen. „Thun Sie es lieber nicht, es könnte ſchrecklich für meinen Mann werden. Franz hat ſchlecht an uns gehandelt . . . er iſt ein gewiſſenloſes Kind . . . . ich kann ſeinem Vater nicht Unrecht geben.“ Als ſie dann eines Abends ſtill und gottergeben, um¬ ringt von den Geſchwiſtern und ihrem Manne, die Augen für immer ſchloß, war das letzte Wort, das ſie hinhauchte, der Name ihres Sohnes. Johannes war von dem Ableben ſeines Weibes ſo nieder¬

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Zitationshilfe: Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888, S. 247. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888/259>, abgerufen am 22.11.2024.