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Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888.

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Niemals war ihn ein Gefühl tieferer Erniedrigung über¬
kommen wie in diesen Tagen. Wer in ihm früher nur den
zufriedenen Meister gesehen hatte, der kannte ihn nicht wieder.
Sein Haar war gelichtet, die Wangen hatten ihre gesunde
Farbe verloren und die Augen lagen tief in den Höhlen.
Dabei war er körperlich abgefallen. Das Entsetzlichste bei
alledem war, daß er jetzt thatsächlich den Schnaps liebte. Um
seine angegriffene Brust zu schonen, hatte er das Rauchen
eingestellt; dafür sagte ihm ein Schluck aus der Flasche um
so mehr zu. Anfänglich hatte er nur dazu gegriffen, um sich
zu betäuben und Kraft zu machen, wie es Beyer sagte;
schließlich aber war es ihm zur Gewohnheit geworden, die
Flasche gleich der Schnupftabaksdose mit sich herumzutragen.
Aber er trank mäßig und blieb stets bei Verstande. Er wollte
sich nur Muth machen, wie er sich selbst belog. Die größte
Mühe gab er sich, um seiner Frau das geheime Laster, von dem
er nicht mehr zu lassen vermochte, so viel als möglich zu
verbergen. Oftmals stieg ihm der Alkohol zu sehr nach
dem Kopfe, daß ihn bei der Arbeit fast die Kräfte ver¬
ließen. Dann ging er nach dem Gärtchen hinaus, um
frische Luft zu schöpfen und die Stirn zu kühlen; oder er
kletterte wie gewöhnlich zur Dachluke hinaus auf den Baum.

Die Maurer waren längst verschwunden. Ueber die
Straße hinweg spannte sich, auf mächtigen Trägern ruhend,
eine gewaltige eiserne Brücke. Auf der ganzen Linie sah
man bereits die Eisenbahnarbeiter in emsiger Thätigkeit, die
Schwellen und Schienen zu legen; während die Schlosser
damit beschäftigt waren, zu beiden Seiten des breiten Fahr¬
dammes die Sicherheitsgitter zu errichten. An zehn Stellen
zu gleicher Zeit erschallte der helle Klang des Eisens, er¬

Niemals war ihn ein Gefühl tieferer Erniedrigung über¬
kommen wie in dieſen Tagen. Wer in ihm früher nur den
zufriedenen Meiſter geſehen hatte, der kannte ihn nicht wieder.
Sein Haar war gelichtet, die Wangen hatten ihre geſunde
Farbe verloren und die Augen lagen tief in den Höhlen.
Dabei war er körperlich abgefallen. Das Entſetzlichſte bei
alledem war, daß er jetzt thatſächlich den Schnaps liebte. Um
ſeine angegriffene Bruſt zu ſchonen, hatte er das Rauchen
eingeſtellt; dafür ſagte ihm ein Schluck aus der Flaſche um
ſo mehr zu. Anfänglich hatte er nur dazu gegriffen, um ſich
zu betäuben und Kraft zu machen, wie es Beyer ſagte;
ſchließlich aber war es ihm zur Gewohnheit geworden, die
Flaſche gleich der Schnupftabaksdoſe mit ſich herumzutragen.
Aber er trank mäßig und blieb ſtets bei Verſtande. Er wollte
ſich nur Muth machen, wie er ſich ſelbſt belog. Die größte
Mühe gab er ſich, um ſeiner Frau das geheime Laſter, von dem
er nicht mehr zu laſſen vermochte, ſo viel als möglich zu
verbergen. Oftmals ſtieg ihm der Alkohol zu ſehr nach
dem Kopfe, daß ihn bei der Arbeit faſt die Kräfte ver¬
ließen. Dann ging er nach dem Gärtchen hinaus, um
friſche Luft zu ſchöpfen und die Stirn zu kühlen; oder er
kletterte wie gewöhnlich zur Dachluke hinaus auf den Baum.

Die Maurer waren längſt verſchwunden. Ueber die
Straße hinweg ſpannte ſich, auf mächtigen Trägern ruhend,
eine gewaltige eiſerne Brücke. Auf der ganzen Linie ſah
man bereits die Eiſenbahnarbeiter in emſiger Thätigkeit, die
Schwellen und Schienen zu legen; während die Schloſſer
damit beſchäftigt waren, zu beiden Seiten des breiten Fahr¬
dammes die Sicherheitsgitter zu errichten. An zehn Stellen
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[244/0256] Niemals war ihn ein Gefühl tieferer Erniedrigung über¬ kommen wie in dieſen Tagen. Wer in ihm früher nur den zufriedenen Meiſter geſehen hatte, der kannte ihn nicht wieder. Sein Haar war gelichtet, die Wangen hatten ihre geſunde Farbe verloren und die Augen lagen tief in den Höhlen. Dabei war er körperlich abgefallen. Das Entſetzlichſte bei alledem war, daß er jetzt thatſächlich den Schnaps liebte. Um ſeine angegriffene Bruſt zu ſchonen, hatte er das Rauchen eingeſtellt; dafür ſagte ihm ein Schluck aus der Flaſche um ſo mehr zu. Anfänglich hatte er nur dazu gegriffen, um ſich zu betäuben und Kraft zu machen, wie es Beyer ſagte; ſchließlich aber war es ihm zur Gewohnheit geworden, die Flaſche gleich der Schnupftabaksdoſe mit ſich herumzutragen. Aber er trank mäßig und blieb ſtets bei Verſtande. Er wollte ſich nur Muth machen, wie er ſich ſelbſt belog. Die größte Mühe gab er ſich, um ſeiner Frau das geheime Laſter, von dem er nicht mehr zu laſſen vermochte, ſo viel als möglich zu verbergen. Oftmals ſtieg ihm der Alkohol zu ſehr nach dem Kopfe, daß ihn bei der Arbeit faſt die Kräfte ver¬ ließen. Dann ging er nach dem Gärtchen hinaus, um friſche Luft zu ſchöpfen und die Stirn zu kühlen; oder er kletterte wie gewöhnlich zur Dachluke hinaus auf den Baum. Die Maurer waren längſt verſchwunden. Ueber die Straße hinweg ſpannte ſich, auf mächtigen Trägern ruhend, eine gewaltige eiſerne Brücke. Auf der ganzen Linie ſah man bereits die Eiſenbahnarbeiter in emſiger Thätigkeit, die Schwellen und Schienen zu legen; während die Schloſſer damit beſchäftigt waren, zu beiden Seiten des breiten Fahr¬ dammes die Sicherheitsgitter zu errichten. An zehn Stellen zu gleicher Zeit erſchallte der helle Klang des Eiſens, er¬

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Zitationshilfe: Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888, S. 244. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888/256>, abgerufen am 22.11.2024.