Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888.

Bild:
<< vorherige Seite

ein Meer von Häusern sich erhebt, zu einem eigentlichen
Fruchtfeld gestaltet hatte. Die Straßen glichen ländlichen
Fahrwegen, auf denen man hin und wieder tief im Sande
versank; und die ein- und zweistöckigen Häuser, welche sich mit
der Zeit zu Straßenzügen an einander gekettet hatten, waren
zum größten Theil von armen Handwerkern bevölkert, die
nothdürftig ihr Dasein fristeten. Untergeordnete Gast¬
höfe und unansehnliche Wirthschaften tauchten überall auf
und die mangelhafte Verbindung mit dem Zentrum der
Stadt, die vereinzelt stehenden Häuser auf freiem Felde, hatten
ein höchst zweifelhaftes Gesindel geschaffen, das in Spelunken
aller Art seine Zufluchtsstätte fand, die Sicherheit bedrohte
und die Gegend in einen argen Ruf brachte.

Und trotzdem lobte Ulrich Gottfried Timpe die alte Zeit,
denn inmitten von Armuth und Elend, die damals eben so
vorhanden waren wie heute und die ganze ungeheure Hälfte
Berlins, die sich von dem Schlesischen- bis zum Rosenthaler-
Thor hinzog, bevölkerten, hatte sein Handwerk geblüht, wurde
es in Ehren gehalten, galt die Schlichtheit des Mannes noch
etwas, bestrebte sich nicht der Sohn des Meisters das Arbeits¬
gewand des Vaters zu verachten, um über seine Verhältnisse
hinaus zu wollen. Allerdings wußte man auch damals noch nichts
(nach der Ansicht Ulrich Gottfried Timpes!) von einer gewissen
Affenliebe, mit denen die Eltern ihre Kinder beglücken, um
dieselben eines Tages über ihre eigenen Köpfe wachsen zu sehen.

Gewiß, die Affenliebe! Johannes Timpe hätte über den
Gebrauch dieses Wortes von Seiten des erblindeten Greises
ein Liedchen singen können; denn der, dem die übertriebenen
elterlichen Zärtlichkeiten galten, war Franz, sein und seines
Weibes einziger Stolz.

ein Meer von Häuſern ſich erhebt, zu einem eigentlichen
Fruchtfeld geſtaltet hatte. Die Straßen glichen ländlichen
Fahrwegen, auf denen man hin und wieder tief im Sande
verſank; und die ein- und zweiſtöckigen Häuſer, welche ſich mit
der Zeit zu Straßenzügen an einander gekettet hatten, waren
zum größten Theil von armen Handwerkern bevölkert, die
nothdürftig ihr Daſein friſteten. Untergeordnete Gaſt¬
höfe und unanſehnliche Wirthſchaften tauchten überall auf
und die mangelhafte Verbindung mit dem Zentrum der
Stadt, die vereinzelt ſtehenden Häuſer auf freiem Felde, hatten
ein höchſt zweifelhaftes Geſindel geſchaffen, das in Spelunken
aller Art ſeine Zufluchtsſtätte fand, die Sicherheit bedrohte
und die Gegend in einen argen Ruf brachte.

Und trotzdem lobte Ulrich Gottfried Timpe die alte Zeit,
denn inmitten von Armuth und Elend, die damals eben ſo
vorhanden waren wie heute und die ganze ungeheure Hälfte
Berlins, die ſich von dem Schleſiſchen- bis zum Roſenthaler-
Thor hinzog, bevölkerten, hatte ſein Handwerk geblüht, wurde
es in Ehren gehalten, galt die Schlichtheit des Mannes noch
etwas, beſtrebte ſich nicht der Sohn des Meiſters das Arbeits¬
gewand des Vaters zu verachten, um über ſeine Verhältniſſe
hinaus zu wollen. Allerdings wußte man auch damals noch nichts
(nach der Anſicht Ulrich Gottfried Timpes!) von einer gewiſſen
Affenliebe, mit denen die Eltern ihre Kinder beglücken, um
dieſelben eines Tages über ihre eigenen Köpfe wachſen zu ſehen.

Gewiß, die Affenliebe! Johannes Timpe hätte über den
Gebrauch dieſes Wortes von Seiten des erblindeten Greiſes
ein Liedchen ſingen können; denn der, dem die übertriebenen
elterlichen Zärtlichkeiten galten, war Franz, ſein und ſeines
Weibes einziger Stolz.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0025" n="13"/>
ein Meer von Häu&#x017F;ern &#x017F;ich erhebt, zu einem eigentlichen<lb/>
Fruchtfeld ge&#x017F;taltet hatte. Die Straßen glichen ländlichen<lb/>
Fahrwegen, auf denen man hin und wieder tief im Sande<lb/>
ver&#x017F;ank; und die ein- und zwei&#x017F;töckigen Häu&#x017F;er, welche &#x017F;ich mit<lb/>
der Zeit zu Straßenzügen an einander gekettet hatten, waren<lb/>
zum größten Theil von armen Handwerkern bevölkert, die<lb/>
nothdürftig ihr Da&#x017F;ein fri&#x017F;teten. Untergeordnete Ga&#x017F;<lb/>
höfe und unan&#x017F;ehnliche Wirth&#x017F;chaften tauchten überall auf<lb/>
und die mangelhafte Verbindung mit dem Zentrum der<lb/>
Stadt, die vereinzelt &#x017F;tehenden Häu&#x017F;er auf freiem Felde, hatten<lb/>
ein höch&#x017F;t zweifelhaftes Ge&#x017F;indel ge&#x017F;chaffen, das in Spelunken<lb/>
aller Art &#x017F;eine Zufluchts&#x017F;tätte fand, die Sicherheit bedrohte<lb/>
und die Gegend in einen argen Ruf brachte.</p><lb/>
        <p>Und trotzdem lobte Ulrich Gottfried Timpe die alte Zeit,<lb/>
denn inmitten von Armuth und Elend, die damals eben &#x017F;o<lb/>
vorhanden waren wie heute und die ganze ungeheure Hälfte<lb/>
Berlins, die &#x017F;ich von dem Schle&#x017F;i&#x017F;chen- bis zum Ro&#x017F;enthaler-<lb/>
Thor hinzog, bevölkerten, hatte &#x017F;ein Handwerk geblüht, wurde<lb/>
es in Ehren gehalten, galt die Schlichtheit des Mannes noch<lb/>
etwas, be&#x017F;trebte &#x017F;ich nicht der Sohn des Mei&#x017F;ters das Arbeits¬<lb/>
gewand des Vaters zu verachten, um über &#x017F;eine Verhältni&#x017F;&#x017F;e<lb/>
hinaus zu wollen. Allerdings wußte man auch damals noch nichts<lb/>
(nach der An&#x017F;icht Ulrich Gottfried Timpes!) von einer gewi&#x017F;&#x017F;en<lb/>
Affenliebe, mit denen die Eltern ihre Kinder beglücken, um<lb/>
die&#x017F;elben eines Tages über ihre eigenen Köpfe wach&#x017F;en zu &#x017F;ehen.</p><lb/>
        <p>Gewiß, die Affenliebe! Johannes Timpe hätte über den<lb/>
Gebrauch die&#x017F;es Wortes von Seiten des erblindeten Grei&#x017F;es<lb/>
ein Liedchen &#x017F;ingen können; denn der, dem die übertriebenen<lb/>
elterlichen Zärtlichkeiten galten, war Franz, &#x017F;ein und &#x017F;eines<lb/>
Weibes einziger Stolz.</p><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[13/0025] ein Meer von Häuſern ſich erhebt, zu einem eigentlichen Fruchtfeld geſtaltet hatte. Die Straßen glichen ländlichen Fahrwegen, auf denen man hin und wieder tief im Sande verſank; und die ein- und zweiſtöckigen Häuſer, welche ſich mit der Zeit zu Straßenzügen an einander gekettet hatten, waren zum größten Theil von armen Handwerkern bevölkert, die nothdürftig ihr Daſein friſteten. Untergeordnete Gaſt¬ höfe und unanſehnliche Wirthſchaften tauchten überall auf und die mangelhafte Verbindung mit dem Zentrum der Stadt, die vereinzelt ſtehenden Häuſer auf freiem Felde, hatten ein höchſt zweifelhaftes Geſindel geſchaffen, das in Spelunken aller Art ſeine Zufluchtsſtätte fand, die Sicherheit bedrohte und die Gegend in einen argen Ruf brachte. Und trotzdem lobte Ulrich Gottfried Timpe die alte Zeit, denn inmitten von Armuth und Elend, die damals eben ſo vorhanden waren wie heute und die ganze ungeheure Hälfte Berlins, die ſich von dem Schleſiſchen- bis zum Roſenthaler- Thor hinzog, bevölkerten, hatte ſein Handwerk geblüht, wurde es in Ehren gehalten, galt die Schlichtheit des Mannes noch etwas, beſtrebte ſich nicht der Sohn des Meiſters das Arbeits¬ gewand des Vaters zu verachten, um über ſeine Verhältniſſe hinaus zu wollen. Allerdings wußte man auch damals noch nichts (nach der Anſicht Ulrich Gottfried Timpes!) von einer gewiſſen Affenliebe, mit denen die Eltern ihre Kinder beglücken, um dieſelben eines Tages über ihre eigenen Köpfe wachſen zu ſehen. Gewiß, die Affenliebe! Johannes Timpe hätte über den Gebrauch dieſes Wortes von Seiten des erblindeten Greiſes ein Liedchen ſingen können; denn der, dem die übertriebenen elterlichen Zärtlichkeiten galten, war Franz, ſein und ſeines Weibes einziger Stolz.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888/25
Zitationshilfe: Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888, S. 13. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888/25>, abgerufen am 25.04.2024.