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Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888.

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II.
Drei Generationen.

Ja, ja, das waren noch andere Zeiten . . . . damals!
Das Handwerk hatte einen goldenen Boden und wurde
geehrt. Voll Stolz band man sich frühmorgens die Schürze
vor und schämte sich nicht der Arbeit der Eltern. Aber das
scheint sich geändert zu haben, seitdem ich nicht mehr sehen
kann. Heute will so ein Grünschnabel von Junge den großen
Herrn spielen, mit gefüllter Tasche und weißen Händen
umherlaufen und klüger als wir Alten sein. . . . Aber die
Zuchtruthe fehlt, die Zuchtruthe -- das ist meine Rede!"

Auf diese wohlgemeinten Worte Gottfried Timpes,
die sich seit einem Jahrzehnt täglich zu wiederholen
pflegten, blieb Johannes Timpe gewöhnlich die Ant¬
wort schuldig, sobald es sich um die Anklage gegen
sein einziges Kind, seinen Sohn, handelte. Aber sein Blick
voll Liebe richtete sich mit dem Ausdrucke tiefsten Mitleids
nach dem Fenster auf die hinfällige Gestalt des dreiundacht¬
zigjährigen Greises, der seit einem Jahrzehnt ein Dasein in
ewiger Nacht führte und in der Welt des vergangenen Jahr¬
hunderts lebte, die seine Erinnerung ihm vor das geistige
Auge zauberte.


II.
Drei Generationen.

Ja, ja, das waren noch andere Zeiten . . . . damals!
Das Handwerk hatte einen goldenen Boden und wurde
geehrt. Voll Stolz band man ſich frühmorgens die Schürze
vor und ſchämte ſich nicht der Arbeit der Eltern. Aber das
ſcheint ſich geändert zu haben, ſeitdem ich nicht mehr ſehen
kann. Heute will ſo ein Grünſchnabel von Junge den großen
Herrn ſpielen, mit gefüllter Taſche und weißen Händen
umherlaufen und klüger als wir Alten ſein. . . . Aber die
Zuchtruthe fehlt, die Zuchtruthe — das iſt meine Rede!“

Auf dieſe wohlgemeinten Worte Gottfried Timpes,
die ſich ſeit einem Jahrzehnt täglich zu wiederholen
pflegten, blieb Johannes Timpe gewöhnlich die Ant¬
wort ſchuldig, ſobald es ſich um die Anklage gegen
ſein einziges Kind, ſeinen Sohn, handelte. Aber ſein Blick
voll Liebe richtete ſich mit dem Ausdrucke tiefſten Mitleids
nach dem Fenſter auf die hinfällige Geſtalt des dreiundacht¬
zigjährigen Greiſes, der ſeit einem Jahrzehnt ein Daſein in
ewiger Nacht führte und in der Welt des vergangenen Jahr¬
hunderts lebte, die ſeine Erinnerung ihm vor das geiſtige
Auge zauberte.

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[[10]/0022] II. Drei Generationen. Ja, ja, das waren noch andere Zeiten . . . . damals! Das Handwerk hatte einen goldenen Boden und wurde geehrt. Voll Stolz band man ſich frühmorgens die Schürze vor und ſchämte ſich nicht der Arbeit der Eltern. Aber das ſcheint ſich geändert zu haben, ſeitdem ich nicht mehr ſehen kann. Heute will ſo ein Grünſchnabel von Junge den großen Herrn ſpielen, mit gefüllter Taſche und weißen Händen umherlaufen und klüger als wir Alten ſein. . . . Aber die Zuchtruthe fehlt, die Zuchtruthe — das iſt meine Rede!“ Auf dieſe wohlgemeinten Worte Gottfried Timpes, die ſich ſeit einem Jahrzehnt täglich zu wiederholen pflegten, blieb Johannes Timpe gewöhnlich die Ant¬ wort ſchuldig, ſobald es ſich um die Anklage gegen ſein einziges Kind, ſeinen Sohn, handelte. Aber ſein Blick voll Liebe richtete ſich mit dem Ausdrucke tiefſten Mitleids nach dem Fenſter auf die hinfällige Geſtalt des dreiundacht¬ zigjährigen Greiſes, der ſeit einem Jahrzehnt ein Daſein in ewiger Nacht führte und in der Welt des vergangenen Jahr¬ hunderts lebte, die ſeine Erinnerung ihm vor das geiſtige Auge zauberte.

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Zitationshilfe: Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888, S. [10]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888/22>, abgerufen am 29.03.2024.