experimentellen Ergebnisse mit unserer sonstigen Kenntnis der psy- chischen Morphiumwirkung ist, wie mir scheint, eine befriedigende. Wir wissen, dass wenigstens kleinere Gaben des Mittels nicht, wie die zuerst besprochenen Stoffe, Schlaf erzeugen, sondern im Gegen- theil eine grössere Lebhaftigkeit und raschere Aufeinanderfolge der Vorstellungen herbeiführen, wie der Thee. Ist doch dem Morphinisten geistige Arbeit überhaupt erst möglich, wenn er sich die nöthige An- regung durch das unentbehrliche Medicament verschafft hat! Dabei fehlen der Morphiumvergiftung völlig die motorischen Reizerscheinungen des Alkoholrausches; es entwickelt sich kein Bewegungsdrang, sondern die Neigung zu behaglichem, ruhigem Hinträumen, wie sie der Er- schwerung der centralen motorischen Acte entsprechen würde. Anderer- seits zeigt uns der Morphinist auf das deutlichste jenen Verlust der moralischen Energie, den wir als Folge einer immer wiederholten Willenslähmung erwarten müssen. Ja diese Störung ist hier noch intensiver, als beim Alkoholisten, vielleicht nicht nur, weil der Miss- brauch ein ununterbrochener ist, sondern möglicherweise auch deshalb, weil hier schon kleine Gaben von vornherein lähmend wirken, während der Alkohol erst in grösseren Mengen denselben Effect herbeiführt.
Durch die Eigenart der Wirkungen des Morphiums erklärt sich auch der therapeutische Erfolg des Alkohols in der Morphium- abstinenz, sowie der besondere Einfluss jenes Mittels in der Verbindung mit der Chloral- oder Chloroformnarkose. Auch der Alkohol erzeugt einen Zustand von Euphorie, der die Morphiumwirkung bis zu einem gewissen Grade zu ersetzen vermag. Das Chloralhydrat unterdrückt die anregende Wirkung des Morphiums auf das Sensorium, während umgekehrt dieses letztere Mittel die motorische Excitation der Chloro- formnarkose verhindert oder abschwächt.
Noch eine ganze Reihe von Fragen wären es, deren Beantwortung man vielleicht durch ein genaues Studium der psychischen Morphium- wirkungen erreichen könnte. Namentlich interessant würde mir eine Vergleichung der Morphiumeuphorie mit der gehobenen Stimmung des Alkoholrausches erscheinen, die, wie ich glaube, verschiedener Art sind. Wir könnten dadurch vielleicht zu einem Verständnisse der so wich- tigen Morphiumwirkung bei Angstzuständen und zu einer klareren Vorstellung über das Wesen dieser letzteren selbst gelangen. Endlich würde das Experiment wol auch über Entstehung und psychologische Natur gewisser Abstinenzerscheinungen Licht verbreiten können. Bei der Unvollständigkeit meiner Versuche muss ich es mir versagen, auf diese Fragen irgendwie näher einzugehen, um so mehr, als gerade
experimentellen Ergebnisse mit unserer sonstigen Kenntnis der psy- chischen Morphiumwirkung ist, wie mir scheint, eine befriedigende. Wir wissen, dass wenigstens kleinere Gaben des Mittels nicht, wie die zuerst besprochenen Stoffe, Schlaf erzeugen, sondern im Gegen- theil eine grössere Lebhaftigkeit und raschere Aufeinanderfolge der Vorstellungen herbeiführen, wie der Thee. Ist doch dem Morphinisten geistige Arbeit überhaupt erst möglich, wenn er sich die nöthige An- regung durch das unentbehrliche Medicament verschafft hat! Dabei fehlen der Morphiumvergiftung völlig die motorischen Reizerscheinungen des Alkoholrausches; es entwickelt sich kein Bewegungsdrang, sondern die Neigung zu behaglichem, ruhigem Hinträumen, wie sie der Er- schwerung der centralen motorischen Acte entsprechen würde. Anderer- seits zeigt uns der Morphinist auf das deutlichste jenen Verlust der moralischen Energie, den wir als Folge einer immer wiederholten Willenslähmung erwarten müssen. Ja diese Störung ist hier noch intensiver, als beim Alkoholisten, vielleicht nicht nur, weil der Miss- brauch ein ununterbrochener ist, sondern möglicherweise auch deshalb, weil hier schon kleine Gaben von vornherein lähmend wirken, während der Alkohol erst in grösseren Mengen denselben Effect herbeiführt.
Durch die Eigenart der Wirkungen des Morphiums erklärt sich auch der therapeutische Erfolg des Alkohols in der Morphium- abstinenz, sowie der besondere Einfluss jenes Mittels in der Verbindung mit der Chloral- oder Chloroformnarkose. Auch der Alkohol erzeugt einen Zustand von Euphorie, der die Morphiumwirkung bis zu einem gewissen Grade zu ersetzen vermag. Das Chloralhydrat unterdrückt die anregende Wirkung des Morphiums auf das Sensorium, während umgekehrt dieses letztere Mittel die motorische Excitation der Chloro- formnarkose verhindert oder abschwächt.
Noch eine ganze Reihe von Fragen wären es, deren Beantwortung man vielleicht durch ein genaues Studium der psychischen Morphium- wirkungen erreichen könnte. Namentlich interessant würde mir eine Vergleichung der Morphiumeuphorie mit der gehobenen Stimmung des Alkoholrausches erscheinen, die, wie ich glaube, verschiedener Art sind. Wir könnten dadurch vielleicht zu einem Verständnisse der so wich- tigen Morphiumwirkung bei Angstzuständen und zu einer klareren Vorstellung über das Wesen dieser letzteren selbst gelangen. Endlich würde das Experiment wol auch über Entstehung und psychologische Natur gewisser Abstinenzerscheinungen Licht verbreiten können. Bei der Unvollständigkeit meiner Versuche muss ich es mir versagen, auf diese Fragen irgendwie näher einzugehen, um so mehr, als gerade
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[226/0242]
experimentellen Ergebnisse mit unserer sonstigen Kenntnis der psy-
chischen Morphiumwirkung ist, wie mir scheint, eine befriedigende.
Wir wissen, dass wenigstens kleinere Gaben des Mittels nicht, wie
die zuerst besprochenen Stoffe, Schlaf erzeugen, sondern im Gegen-
theil eine grössere Lebhaftigkeit und raschere Aufeinanderfolge der
Vorstellungen herbeiführen, wie der Thee. Ist doch dem Morphinisten
geistige Arbeit überhaupt erst möglich, wenn er sich die nöthige An-
regung durch das unentbehrliche Medicament verschafft hat! Dabei
fehlen der Morphiumvergiftung völlig die motorischen Reizerscheinungen
des Alkoholrausches; es entwickelt sich kein Bewegungsdrang, sondern
die Neigung zu behaglichem, ruhigem Hinträumen, wie sie der Er-
schwerung der centralen motorischen Acte entsprechen würde. Anderer-
seits zeigt uns der Morphinist auf das deutlichste jenen Verlust der
moralischen Energie, den wir als Folge einer immer wiederholten
Willenslähmung erwarten müssen. Ja diese Störung ist hier noch
intensiver, als beim Alkoholisten, vielleicht nicht nur, weil der Miss-
brauch ein ununterbrochener ist, sondern möglicherweise auch deshalb,
weil hier schon kleine Gaben von vornherein lähmend wirken, während
der Alkohol erst in grösseren Mengen denselben Effect herbeiführt.
Durch die Eigenart der Wirkungen des Morphiums erklärt sich
auch der therapeutische Erfolg des Alkohols in der Morphium-
abstinenz, sowie der besondere Einfluss jenes Mittels in der Verbindung
mit der Chloral- oder Chloroformnarkose. Auch der Alkohol erzeugt
einen Zustand von Euphorie, der die Morphiumwirkung bis zu einem
gewissen Grade zu ersetzen vermag. Das Chloralhydrat unterdrückt
die anregende Wirkung des Morphiums auf das Sensorium, während
umgekehrt dieses letztere Mittel die motorische Excitation der Chloro-
formnarkose verhindert oder abschwächt.
Noch eine ganze Reihe von Fragen wären es, deren Beantwortung
man vielleicht durch ein genaues Studium der psychischen Morphium-
wirkungen erreichen könnte. Namentlich interessant würde mir eine
Vergleichung der Morphiumeuphorie mit der gehobenen Stimmung des
Alkoholrausches erscheinen, die, wie ich glaube, verschiedener Art sind.
Wir könnten dadurch vielleicht zu einem Verständnisse der so wich-
tigen Morphiumwirkung bei Angstzuständen und zu einer klareren
Vorstellung über das Wesen dieser letzteren selbst gelangen. Endlich
würde das Experiment wol auch über Entstehung und psychologische
Natur gewisser Abstinenzerscheinungen Licht verbreiten können. Bei
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Kraepelin, Emil: Ueber die Beeinflussung einfacher psychischer Vorgänge durch einige Arzneimittel. Jena, 1892, S. 226. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kraepelin_arzneimittel_1892/242>, abgerufen am 16.07.2024.
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