Diese seltsame, in Deutschland, meines Wissens, noch nicht bekannt gewordene Geschichte wird um so mehr in Erstaunen setzen, wenn ich versichere, daß es jetzt eine Menge Menschen in Frankreich giebt, welche nicht al- lein steif und fest glauben, Ludwig der Sieben- zehnte lebe noch, sondern auch ziemlich scheinbare Gründe dafür anführen. Kämen nicht einige offenbare Mährchen dabei vor, so müßte man wenigstens dabei be- kennen, die Sache sey möglich. Die Geschichte ist übrigens aktenmäßig bekannt gemacht worden; ich will sie dem Leser mittheilen, zuerst so, wie das Gouverne- ment und die Richterstühle sie erzählen, alsdann so, wie der Held der Geschichte und seine Anhänger sie glau- ben machen gewollt haben.
Jean-Marie Hervagault ist der Sohn eines Schnei- ders zu St. Lo, von einnehmender Gestalt, Gesichtszü- gen, welche mit denen Ludwig des XVJ. viel Aehn- lichkeit haben, blond, schlank, lebhaft, arglos sich hin- gebend, schnell fassend, Unschuld trefflich heuchelnd; also viele gute Anlagen, aber ohne Erziehung. Man muth- maßt, er sey ein Kind der Liebe des ehemaligen Herzogs von Valentinois, welcher Güter in der Normandie be- saß. Die wundergleichen Begebenheiten der Revolution verrückten ihm den Kopf; er sah, daß Mancher aus dem Staube sich emporgeschwungen hatte, er wollte es auch versuchen. Jm September 1796 lief er aus dem väter-
Der falsche Dauphin.
Diese seltsame, in Deutschland, meines Wissens, noch nicht bekannt gewordene Geschichte wird um so mehr in Erstaunen setzen, wenn ich versichere, daß es jetzt eine Menge Menschen in Frankreich giebt, welche nicht al- lein steif und fest glauben, Ludwig der Sieben- zehnte lebe noch, sondern auch ziemlich scheinbare Gruͤnde dafuͤr anfuͤhren. Kaͤmen nicht einige offenbare Maͤhrchen dabei vor, so muͤßte man wenigstens dabei be- kennen, die Sache sey moͤglich. Die Geschichte ist uͤbrigens aktenmaͤßig bekannt gemacht worden; ich will sie dem Leser mittheilen, zuerst so, wie das Gouverne- ment und die Richterstuͤhle sie erzaͤhlen, alsdann so, wie der Held der Geschichte und seine Anhaͤnger sie glau- ben machen gewollt haben.
Jean-Marie Hervagault ist der Sohn eines Schnei- ders zu St. Lo, von einnehmender Gestalt, Gesichtszuͤ- gen, welche mit denen Ludwig des XVJ. viel Aehn- lichkeit haben, blond, schlank, lebhaft, arglos sich hin- gebend, schnell fassend, Unschuld trefflich heuchelnd; also viele gute Anlagen, aber ohne Erziehung. Man muth- maßt, er sey ein Kind der Liebe des ehemaligen Herzogs von Valentinois, welcher Guͤter in der Normandie be- saß. Die wundergleichen Begebenheiten der Revolution verruͤckten ihm den Kopf; er sah, daß Mancher aus dem Staube sich emporgeschwungen hatte, er wollte es auch versuchen. Jm September 1796 lief er aus dem vaͤter-
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Der falsche Dauphin.
Diese seltsame, in Deutschland, meines Wissens, noch
nicht bekannt gewordene Geschichte wird um so mehr in
Erstaunen setzen, wenn ich versichere, daß es jetzt eine
Menge Menschen in Frankreich giebt, welche nicht al-
lein steif und fest glauben, Ludwig der Sieben-
zehnte lebe noch, sondern auch ziemlich scheinbare
Gruͤnde dafuͤr anfuͤhren. Kaͤmen nicht einige offenbare
Maͤhrchen dabei vor, so muͤßte man wenigstens dabei be-
kennen, die Sache sey moͤglich. Die Geschichte ist
uͤbrigens aktenmaͤßig bekannt gemacht worden; ich will sie
dem Leser mittheilen, zuerst so, wie das Gouverne-
ment und die Richterstuͤhle sie erzaͤhlen, alsdann so,
wie der Held der Geschichte und seine Anhaͤnger sie glau-
ben machen gewollt haben.
Jean-Marie Hervagault ist der Sohn eines Schnei-
ders zu St. Lo, von einnehmender Gestalt, Gesichtszuͤ-
gen, welche mit denen Ludwig des XVJ. viel Aehn-
lichkeit haben, blond, schlank, lebhaft, arglos sich hin-
gebend, schnell fassend, Unschuld trefflich heuchelnd; also
viele gute Anlagen, aber ohne Erziehung. Man muth-
maßt, er sey ein Kind der Liebe des ehemaligen Herzogs
von Valentinois, welcher Guͤter in der Normandie be-
saß. Die wundergleichen Begebenheiten der Revolution
verruͤckten ihm den Kopf; er sah, daß Mancher aus dem
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Die "Erinnerungen aus Paris im Jahre 1804" von Au… [mehr]
Die "Erinnerungen aus Paris im Jahre 1804" von August von Kotzebue erschienen 1804 in einer einbändigen Ausgabe im Frölich-Verlag, Berlin. Im gleichen Jahr wurde diese Ausgabe als zweibändige Ausgabe in einem Band im Titel als "unveränderte Auflage" bezeichnet, herausgegeben. Das Deutsche Textarchiv hat den Text der 3. unveränderten Auflage im Rahmen einer Kuration herausgegeben.
Kotzebue, August von: Erinnerungen aus Paris im Jahre 1804. Bd. 2. Berlin, 1804, S. 90. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kotzebue_erinnerungen02_1804/90>, abgerufen am 31.07.2024.
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