Der Nachfolger des berühmten Abbe de l'Epee, der nicht unberühmte Sicard, war eine Zeitlang krank ge- wesen, und hatte die gewöhnlichen öffentlichen Sitzungen aussetzen müssen, daher war die Versammlung sehr zahl- reich, als er zum erstenmal dazu einlud. Kaum faßte der große Saal die Menge der Fremden. Seine einzige Verzierung war die Büste des Abbe de J'Epee. Reihen von Bänken erhoben sich amphitheatralisch, die taubstum- men Zöglinge saßen auf den vordersten; Sicard selbst be- trat ein Katheder.
Trotz seiner kaum überstandenen Krankheit, redete er fast ununterbrochen, von halb zwölf Uhr an, bis nach vier Uhr, also fast fünf Stunden, um die er uns aber gewißermaßen betrog: denn Niemanden glaubte länger, als ein paar Stunden, gegenwärtig gewesen zu seyn. Man hat ihm verschiedentlich in dentschen Blättern den Vorwurf der Charlatanerie gemacht, ich meyne aber, man thue ihm Unrecht. Der Mann hat durchaus nichts Aehnliches mit einem Charlatan; und wenn er zuweilen in diesen Sitzungen die sinnreichsten Taubstummen einige Künste machen läßt, so ist ihm das wohl zu verzeihen: denn, womit soll er dann eine so große, so sehr ge- mischte Versammlung unterhalten? -- Er that doch an jenem Tage bey weitem Mehr, und wirklich zu Viel für ein solches, größtentheils aus Damen bestan- denes Publikum. Er entwickelte seine Methode, den Zweck, (nämlich Menschen aus diesen Unglücklichen zu
Das Taubstummeninstitut.
Der Nachfolger des beruͤhmten Abbé de l'Epée, der nicht unberuͤhmte Sicard, war eine Zeitlang krank ge- wesen, und hatte die gewoͤhnlichen oͤffentlichen Sitzungen aussetzen muͤssen, daher war die Versammlung sehr zahl- reich, als er zum erstenmal dazu einlud. Kaum faßte der große Saal die Menge der Fremden. Seine einzige Verzierung war die Buͤste des Abbé de J'Epée. Reihen von Baͤnken erhoben sich amphitheatralisch, die taubstum- men Zoͤglinge saßen auf den vordersten; Sicard selbst be- trat ein Katheder.
Trotz seiner kaum uͤberstandenen Krankheit, redete er fast ununterbrochen, von halb zwoͤlf Uhr an, bis nach vier Uhr, also fast fuͤnf Stunden, um die er uns aber gewißermaßen betrog: denn Niemanden glaubte laͤnger, als ein paar Stunden, gegenwaͤrtig gewesen zu seyn. Man hat ihm verschiedentlich in dentschen Blaͤttern den Vorwurf der Charlatanerie gemacht, ich meyne aber, man thue ihm Unrecht. Der Mann hat durchaus nichts Aehnliches mit einem Charlatan; und wenn er zuweilen in diesen Sitzungen die sinnreichsten Taubstummen einige Kuͤnste machen laͤßt, so ist ihm das wohl zu verzeihen: denn, womit soll er dann eine so große, so sehr ge- mischte Versammlung unterhalten? — Er that doch an jenem Tage bey weitem Mehr, und wirklich zu Viel fuͤr ein solches, groͤßtentheils aus Damen bestan- denes Publikum. Er entwickelte seine Methode, den Zweck, (naͤmlich Menschen aus diesen Ungluͤcklichen zu
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Das Taubstummeninstitut.
Der Nachfolger des beruͤhmten Abbé de l'Epée, der
nicht unberuͤhmte Sicard, war eine Zeitlang krank ge-
wesen, und hatte die gewoͤhnlichen oͤffentlichen Sitzungen
aussetzen muͤssen, daher war die Versammlung sehr zahl-
reich, als er zum erstenmal dazu einlud. Kaum faßte
der große Saal die Menge der Fremden. Seine einzige
Verzierung war die Buͤste des Abbé de J'Epée. Reihen
von Baͤnken erhoben sich amphitheatralisch, die taubstum-
men Zoͤglinge saßen auf den vordersten; Sicard selbst be-
trat ein Katheder.
Trotz seiner kaum uͤberstandenen Krankheit, redete
er fast ununterbrochen, von halb zwoͤlf Uhr an, bis nach
vier Uhr, also fast fuͤnf Stunden, um die er uns aber
gewißermaßen betrog: denn Niemanden glaubte laͤnger,
als ein paar Stunden, gegenwaͤrtig gewesen zu seyn.
Man hat ihm verschiedentlich in dentschen Blaͤttern den
Vorwurf der Charlatanerie gemacht, ich meyne aber,
man thue ihm Unrecht. Der Mann hat durchaus nichts
Aehnliches mit einem Charlatan; und wenn er zuweilen
in diesen Sitzungen die sinnreichsten Taubstummen einige
Kuͤnste machen laͤßt, so ist ihm das wohl zu verzeihen:
denn, womit soll er dann eine so große, so sehr ge-
mischte Versammlung unterhalten? — Er that doch
an jenem Tage bey weitem Mehr, und wirklich zu
Viel fuͤr ein solches, groͤßtentheils aus Damen bestan-
denes Publikum. Er entwickelte seine Methode, den
Zweck, (naͤmlich Menschen aus diesen Ungluͤcklichen zu
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Die "Erinnerungen aus Paris im Jahre 1804" von Au… [mehr]
Die "Erinnerungen aus Paris im Jahre 1804" von August von Kotzebue erschienen 1804 in einer einbändigen Ausgabe im Frölich-Verlag, Berlin. Im gleichen Jahr wurde diese Ausgabe als zweibändige Ausgabe in einem Band im Titel als "unveränderte Auflage" bezeichnet, herausgegeben. Das Deutsche Textarchiv hat den Text der 3. unveränderten Auflage im Rahmen einer Kuration herausgegeben.
Kotzebue, August von: Erinnerungen aus Paris im Jahre 1804. Bd. 2. Berlin, 1804, S. 116. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kotzebue_erinnerungen02_1804/116>, abgerufen am 08.07.2024.
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