Mit Gunst, ist es denn im Grunde etwas anders, als wenn ein Philosoph auf seinen Katheder tritt, und mit zwei demonstrirenden Fingern den Vorhang der Zukunft aufrollt, wie ein Stück Papier? -- Lassen Sie uns wei- ter gehen, dorthin, wo die prächtige Jnschrift prangt: goldene Kette des Schicksals. Diese kostbare Ket- te besteht aus neunzig Patronen von Goldpapier, und ist wie abzuhaspelndes Garn auf ein Rad gewunden, wel- ches ein Blinder dreht. Sie wählen eine von diesen Pa- tronen oder Hülsen, der Blinde öffnet sie, und die darin enthaltene Nummer macht abermals Jhr Glück. -- Wol- len Sie aber durchaus Jhr Glück im Lotto nicht machen, so werden Sie doch wenigstens neugierig seyn, Jhre künf- tigen Schicksale zu erfahren, auch die vergangenen, wenn es Jhnen beliebt. Dort vorm Pont-neuf steht ein sol- cher Wundermann, der sich sogar ausdrücklich als von der Polizei privilegirt ankündigt, und der zwar auch sein Talent hauptsächlich dem Lotto gewidmet hat, (weil die Menschen doch noch weit lieber Geld gewinnen, als in die Zukunft schauen), der aber auch nebenher auf Jhr Verlangen für zwei Sous das Buch des Schicksals aufschlägt, und mit einer wundernswürdigen Geläufigkeit alles her erzählt, was geschehen ist und geschehen wird. Ob zwanzig oder dreißig Menschen hintereinander aus ver- schiedenen Ständen, Altern und Geschlechtern seine Kunst auffordern, das verwirrt ihn gar nicht; er fixirt Einen nach dem Andern, lies't in den Augen und der ganzen Physiognomie, spricht zu jedem Einzelnen wohl zwei Mi- nuten lang, ist dabei sehr ernsthaft, drückt sich vortreff- lich aus, sagt in einer halben Stunde (so lange ungefähr stand ich dabei) gewiß die nemliche Sache nicht zweimal, stockt und stottert nie, macht am Ende eine kleine Ver-
Mit Gunst, ist es denn im Grunde etwas anders, als wenn ein Philosoph auf seinen Katheder tritt, und mit zwei demonstrirenden Fingern den Vorhang der Zukunft aufrollt, wie ein Stuͤck Papier? — Lassen Sie uns wei- ter gehen, dorthin, wo die praͤchtige Jnschrift prangt: goldene Kette des Schicksals. Diese kostbare Ket- te besteht aus neunzig Patronen von Goldpapier, und ist wie abzuhaspelndes Garn auf ein Rad gewunden, wel- ches ein Blinder dreht. Sie waͤhlen eine von diesen Pa- tronen oder Huͤlsen, der Blinde oͤffnet sie, und die darin enthaltene Nummer macht abermals Jhr Gluͤck. — Wol- len Sie aber durchaus Jhr Gluͤck im Lotto nicht machen, so werden Sie doch wenigstens neugierig seyn, Jhre kuͤnf- tigen Schicksale zu erfahren, auch die vergangenen, wenn es Jhnen beliebt. Dort vorm Pont-neuf steht ein sol- cher Wundermann, der sich sogar ausdruͤcklich als von der Polizei privilegirt ankuͤndigt, und der zwar auch sein Talent hauptsaͤchlich dem Lotto gewidmet hat, (weil die Menschen doch noch weit lieber Geld gewinnen, als in die Zukunft schauen), der aber auch nebenher auf Jhr Verlangen fuͤr zwei Sous das Buch des Schicksals aufschlaͤgt, und mit einer wundernswuͤrdigen Gelaͤufigkeit alles her erzaͤhlt, was geschehen ist und geschehen wird. Ob zwanzig oder dreißig Menschen hintereinander aus ver- schiedenen Staͤnden, Altern und Geschlechtern seine Kunst auffordern, das verwirrt ihn gar nicht; er fixirt Einen nach dem Andern, lies't in den Augen und der ganzen Physiognomie, spricht zu jedem Einzelnen wohl zwei Mi- nuten lang, ist dabei sehr ernsthaft, druͤckt sich vortreff- lich aus, sagt in einer halben Stunde (so lange ungefaͤhr stand ich dabei) gewiß die nemliche Sache nicht zweimal, stockt und stottert nie, macht am Ende eine kleine Ver-
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Mit Gunst, ist es denn im Grunde etwas anders, als
wenn ein Philosoph auf seinen Katheder tritt, und mit
zwei demonstrirenden Fingern den Vorhang der Zukunft
aufrollt, wie ein Stuͤck Papier? — Lassen Sie uns wei-
ter gehen, dorthin, wo die praͤchtige Jnschrift prangt:
goldene Kette des Schicksals. Diese kostbare Ket-
te besteht aus neunzig Patronen von Goldpapier, und ist
wie abzuhaspelndes Garn auf ein Rad gewunden, wel-
ches ein Blinder dreht. Sie waͤhlen eine von diesen Pa-
tronen oder Huͤlsen, der Blinde oͤffnet sie, und die darin
enthaltene Nummer macht abermals Jhr Gluͤck. — Wol-
len Sie aber durchaus Jhr Gluͤck im Lotto nicht machen,
so werden Sie doch wenigstens neugierig seyn, Jhre kuͤnf-
tigen Schicksale zu erfahren, auch die vergangenen, wenn
es Jhnen beliebt. Dort vorm Pont-neuf steht ein sol-
cher Wundermann, der sich sogar ausdruͤcklich als von
der Polizei privilegirt ankuͤndigt, und der zwar
auch sein Talent hauptsaͤchlich dem Lotto gewidmet hat,
(weil die Menschen doch noch weit lieber Geld gewinnen,
als in die Zukunft schauen), der aber auch nebenher auf
Jhr Verlangen fuͤr zwei Sous das Buch des Schicksals
aufschlaͤgt, und mit einer wundernswuͤrdigen Gelaͤufigkeit
alles her erzaͤhlt, was geschehen ist und geschehen wird.
Ob zwanzig oder dreißig Menschen hintereinander aus ver-
schiedenen Staͤnden, Altern und Geschlechtern seine Kunst
auffordern, das verwirrt ihn gar nicht; er fixirt Einen
nach dem Andern, lies't in den Augen und der ganzen
Physiognomie, spricht zu jedem Einzelnen wohl zwei Mi-
nuten lang, ist dabei sehr ernsthaft, druͤckt sich vortreff-
lich aus, sagt in einer halben Stunde (so lange ungefaͤhr
stand ich dabei) gewiß die nemliche Sache nicht zweimal,
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Die "Erinnerungen aus Paris im Jahre 1804" von Au… [mehr]
Die "Erinnerungen aus Paris im Jahre 1804" von August von Kotzebue erschienen 1804 in einer einbändigen Ausgabe im Frölich-Verlag, Berlin. Im gleichen Jahr wurde diese Ausgabe als zweibändige Ausgabe in einem Band im Titel als "unveränderte Auflage" bezeichnet, herausgegeben. Das Deutsche Textarchiv hat den Text der 3. unveränderten Auflage im Rahmen einer Kuration herausgegeben.
Kotzebue, August von: Erinnerungen aus Paris im Jahre 1804. Bd. 1. Berlin, 1804, S. 50. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kotzebue_erinnerungen01_1804/54>, abgerufen am 16.02.2025.
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