Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kosegarten, Ludwig Gotthard: Poesieen. Bd. 2. Leipzig, 1798.

Bild:
<< vorherige Seite
O des holden Wahns! des goldnen Traumes! -- --
-- -- Und warum denn Wahn und Traum und Tand?
Zirkel unsrer Zeit und unsers Raumes,
Wärest du es, der das All umspannt?
Was dem ruhbedürftgen Geist gemahnet,
Was des Daseyns Räthsel einzig löst,
Was dem sehnsuchtkranken Herzen schwanet,
Was dem Ich kein Grübler eingeflösst?
Worauf Sokrates den Schierlingsbecher leerte,
Worauf Jesus Christus ruhig blutete --
Wäre Täuschung? Nein! Du gingst nicht unter,
Werthe!
Du erwachst einst, Schlummernde!
Schlummre denn in deinem engern Hause!
Schlummr' entgegen einem schönern Nu!
Rings um deine grünende Karthause
Säusle tiefe ahnungreiche Ruh!
Röth', Aurora, meiner Julie Hügel!
Giesse Silber, Luna, auf ihr Grab!
Reget, Weste, die bethauten Flügel!
Sprengt Juwelen auf ihr Moos herab!
Kommt, ihr Wenigen, die mir noch übrig blieben!
Lasst uns Blumen auf der Schwester Urne streun!
Julie, Julie, sieh, wie dich die Deinen lieben!
Julie, nie vergess' ich dein!


O des holden Wahns! des goldnen Traumes! — —
— — Und warum denn Wahn und Traum und Tand?
Zirkel unsrer Zeit und unsers Raumes,
Wärest du es, der das All umspannt?
Was dem ruhbedürftgen Geist gemahnet,
Was des Daseyns Räthsel einzig löst,
Was dem sehnsuchtkranken Herzen schwanet,
Was dem Ich kein Grübler eingeflösst?
Worauf Sokrates den Schierlingsbecher leerte,
Worauf Jesus Christus ruhig blutete —
Wäre Täuschung? Nein! Du gingst nicht unter,
Werthe!
Du erwachst einst, Schlummernde!
Schlummre denn in deinem engern Hause!
Schlummr' entgegen einem schönern Nu!
Rings um deine grünende Karthause
Säusle tiefe ahnungreiche Ruh!
Röth', Aurora, meiner Julie Hügel!
Giesse Silber, Luna, auf ihr Grab!
Reget, Weste, die bethauten Flügel!
Sprengt Juwelen auf ihr Moos herab!
Kommt, ihr Wenigen, die mir noch übrig blieben!
Lasst uns Blumen auf der Schwester Urne streun!
Julie, Julie, sieh, wie dich die Deinen lieben!
Julie, nie vergess' ich dein!


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <lg type="poem">
            <l>
              <pb facs="#f0364" n="342"/>
            </l>
            <lg n="10">
              <l>O des holden Wahns! des goldnen Traumes! &#x2014; &#x2014;</l><lb/>
              <l>&#x2014; &#x2014; Und warum denn Wahn und Traum und Tand?</l><lb/>
              <l>Zirkel unsrer Zeit und unsers Raumes,</l><lb/>
              <l>Wärest du es, der das All umspannt?</l><lb/>
              <l>Was dem ruhbedürftgen Geist gemahnet,</l><lb/>
              <l>Was des Daseyns Räthsel einzig löst,</l><lb/>
              <l>Was dem sehnsuchtkranken Herzen schwanet,</l><lb/>
              <l>Was dem Ich kein Grübler eingeflösst?</l><lb/>
              <l>Worauf Sokrates den Schierlingsbecher leerte,</l><lb/>
              <l>Worauf Jesus Christus ruhig blutete &#x2014;</l><lb/>
              <l>Wäre Täuschung? Nein! Du gingst nicht unter,</l><lb/>
              <l>Werthe!</l><lb/>
              <l>Du erwachst einst, Schlummernde!</l>
            </lg><lb/>
            <lg n="11">
              <l>Schlummre denn in deinem engern Hause!</l><lb/>
              <l>Schlummr' entgegen einem schönern Nu!</l><lb/>
              <l>Rings um deine grünende Karthause</l><lb/>
              <l>Säusle tiefe ahnungreiche Ruh!</l><lb/>
              <l>Röth', Aurora, meiner Julie Hügel!</l><lb/>
              <l>Giesse Silber, Luna, auf ihr Grab!</l><lb/>
              <l>Reget, Weste, die bethauten Flügel!</l><lb/>
              <l>Sprengt Juwelen auf ihr Moos herab!</l><lb/>
              <l>Kommt, ihr Wenigen, die mir noch übrig blieben!</l><lb/>
              <l>Lasst uns Blumen auf der Schwester Urne streun!</l><lb/>
              <l>Julie, Julie, sieh, wie dich die Deinen lieben!</l><lb/>
              <l>Julie, nie vergess' ich dein!</l>
            </lg>
          </lg>
        </div><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[342/0364] O des holden Wahns! des goldnen Traumes! — — — — Und warum denn Wahn und Traum und Tand? Zirkel unsrer Zeit und unsers Raumes, Wärest du es, der das All umspannt? Was dem ruhbedürftgen Geist gemahnet, Was des Daseyns Räthsel einzig löst, Was dem sehnsuchtkranken Herzen schwanet, Was dem Ich kein Grübler eingeflösst? Worauf Sokrates den Schierlingsbecher leerte, Worauf Jesus Christus ruhig blutete — Wäre Täuschung? Nein! Du gingst nicht unter, Werthe! Du erwachst einst, Schlummernde! Schlummre denn in deinem engern Hause! Schlummr' entgegen einem schönern Nu! Rings um deine grünende Karthause Säusle tiefe ahnungreiche Ruh! Röth', Aurora, meiner Julie Hügel! Giesse Silber, Luna, auf ihr Grab! Reget, Weste, die bethauten Flügel! Sprengt Juwelen auf ihr Moos herab! Kommt, ihr Wenigen, die mir noch übrig blieben! Lasst uns Blumen auf der Schwester Urne streun! Julie, Julie, sieh, wie dich die Deinen lieben! Julie, nie vergess' ich dein!

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kosegarten_poesieen02_1798
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kosegarten_poesieen02_1798/364
Zitationshilfe: Kosegarten, Ludwig Gotthard: Poesieen. Bd. 2. Leipzig, 1798, S. 342. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kosegarten_poesieen02_1798/364>, abgerufen am 25.11.2024.