Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.7. Hindurch. Eine neue Magd war ins Haus gekommen -- sie war nicht Anezka. Die alte Marjim hatte es gleich am andern Tag nach dem räthselhaften Weggehen Anezka's gesagt, so eine wäre nicht zum zweiten Male auf der Welt zu finden, die hätte einen Kopf gehabt und ein Geschick, sie müsse das stets wiederholen, als wär' sie des ersten Landrabbiners Tochter gewesen. Man habe mit ihr alle Weisheit der Erde können ausreden, und namentlich, was das Hauswesen betrifft, das habe sie geleitet nicht anders wie ein geboren Judenkind. Die neue Magd war auch gleich mit einem unrechten Fuße in das Haus getreten; trotzdem sie bereits im benachbarten Ghetto eine Zeitlang gedient hatte, kam sie der Großmutter viel zu unwissend und einfältig vor; sie verdarb viele Küchengefäße, die sie wirr durch einander brauchte, ohne zu bedenken, daß der Fleischtopf nicht auch zur Aufnahme der Milch dienen könne. Auch fragte sie in religiösen Dingen zu viel, worüber sich die alte Frau, die das seit langen Jahren nicht gewöhnt war, nicht wenig aufhielt. Hatte Anezka je gefragt? -- Dem Anscheine nach war es im Hause jetzt ganz ruhig. Es vergingen oft Tage, wo Mutter und Sohn kein vertrauliches Wort mit einander sprachen. Die alte Marjim konnte sich in das räthselhafte Weggehen 7. Hindurch. Eine neue Magd war ins Haus gekommen — sie war nicht Anezka. Die alte Marjim hatte es gleich am andern Tag nach dem räthselhaften Weggehen Anezka's gesagt, so eine wäre nicht zum zweiten Male auf der Welt zu finden, die hätte einen Kopf gehabt und ein Geschick, sie müsse das stets wiederholen, als wär' sie des ersten Landrabbiners Tochter gewesen. Man habe mit ihr alle Weisheit der Erde können ausreden, und namentlich, was das Hauswesen betrifft, das habe sie geleitet nicht anders wie ein geboren Judenkind. Die neue Magd war auch gleich mit einem unrechten Fuße in das Haus getreten; trotzdem sie bereits im benachbarten Ghetto eine Zeitlang gedient hatte, kam sie der Großmutter viel zu unwissend und einfältig vor; sie verdarb viele Küchengefäße, die sie wirr durch einander brauchte, ohne zu bedenken, daß der Fleischtopf nicht auch zur Aufnahme der Milch dienen könne. Auch fragte sie in religiösen Dingen zu viel, worüber sich die alte Frau, die das seit langen Jahren nicht gewöhnt war, nicht wenig aufhielt. Hatte Anezka je gefragt? — Dem Anscheine nach war es im Hause jetzt ganz ruhig. Es vergingen oft Tage, wo Mutter und Sohn kein vertrauliches Wort mit einander sprachen. Die alte Marjim konnte sich in das räthselhafte Weggehen <TEI> <text> <body> <pb facs="#f0099"/> <div type="chapter" n="7"> <head>7. Hindurch.</head> <p>Eine neue Magd war ins Haus gekommen — sie war nicht Anezka. Die alte Marjim hatte es gleich am andern Tag nach dem räthselhaften Weggehen Anezka's gesagt, so eine wäre nicht zum zweiten Male auf der Welt zu finden, die hätte einen Kopf gehabt und ein Geschick, sie müsse das stets wiederholen, als wär' sie des ersten Landrabbiners Tochter gewesen. Man habe mit ihr alle Weisheit der Erde können ausreden, und namentlich, was das Hauswesen betrifft, das habe sie geleitet nicht anders wie ein geboren Judenkind. Die neue Magd war auch gleich mit einem unrechten Fuße in das Haus getreten; trotzdem sie bereits im benachbarten Ghetto eine Zeitlang gedient hatte, kam sie der Großmutter viel zu unwissend und einfältig vor; sie verdarb viele Küchengefäße, die sie wirr durch einander brauchte, ohne zu bedenken, daß der Fleischtopf nicht auch zur Aufnahme der Milch dienen könne. Auch fragte sie in religiösen Dingen zu viel, worüber sich die alte Frau, die das seit langen Jahren nicht gewöhnt war, nicht wenig aufhielt. Hatte Anezka je gefragt? —</p><lb/> <p>Dem Anscheine nach war es im Hause jetzt ganz ruhig. Es vergingen oft Tage, wo Mutter und Sohn kein vertrauliches Wort mit einander sprachen. Die alte Marjim konnte sich in das räthselhafte Weggehen<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0099]
7. Hindurch. Eine neue Magd war ins Haus gekommen — sie war nicht Anezka. Die alte Marjim hatte es gleich am andern Tag nach dem räthselhaften Weggehen Anezka's gesagt, so eine wäre nicht zum zweiten Male auf der Welt zu finden, die hätte einen Kopf gehabt und ein Geschick, sie müsse das stets wiederholen, als wär' sie des ersten Landrabbiners Tochter gewesen. Man habe mit ihr alle Weisheit der Erde können ausreden, und namentlich, was das Hauswesen betrifft, das habe sie geleitet nicht anders wie ein geboren Judenkind. Die neue Magd war auch gleich mit einem unrechten Fuße in das Haus getreten; trotzdem sie bereits im benachbarten Ghetto eine Zeitlang gedient hatte, kam sie der Großmutter viel zu unwissend und einfältig vor; sie verdarb viele Küchengefäße, die sie wirr durch einander brauchte, ohne zu bedenken, daß der Fleischtopf nicht auch zur Aufnahme der Milch dienen könne. Auch fragte sie in religiösen Dingen zu viel, worüber sich die alte Frau, die das seit langen Jahren nicht gewöhnt war, nicht wenig aufhielt. Hatte Anezka je gefragt? —
Dem Anscheine nach war es im Hause jetzt ganz ruhig. Es vergingen oft Tage, wo Mutter und Sohn kein vertrauliches Wort mit einander sprachen. Die alte Marjim konnte sich in das räthselhafte Weggehen
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