Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Anezka still vor sich hinweinend in der Mitte der Stube stand. Mit stummer Leidenschaft schritt Josseph auf und nieder, aber seine Gedanken waren nicht alle in der Stube. Es währte nicht lange, so erschollen draußen in der Nacht die schweren Tritte des Bauern Stepan Parzik. Ohne seinen gewöhnlichen Gruß von der "Freiheit und ihren Teufeln" trat er in die Stube, und ohne auf die Tochter einen Blick zu werfen, ging er gerade auf das Bett der Großmutter zu. Was wollt Ihr, Jüdin? fragte er ohne Umschweif. In kurzen, nur mühsam aus keuchender Brust hervorgebrachten Worten berichtete ihm die alte Marjim, was sich so eben zugetragen. Sie habe es für ihre Schuldigkeit gehalten, ihn rufen zu lassen, damit er als Vater doch auch wisse, was seine Tochter zu beginnen sich vorgenommen habe. Zwingen wollte sie Anezka nicht zum Bleiben, denn wenn einer nicht Lust mehr habe, auf einem Orte zu bleiben, so könnten zehntausend Pferde ihn nicht halten; aber der Vater müsse doch auch wissen, was mit der Tochter vorgehe; und daß man sie nicht bei Nacht und Nebel aus dem Dienste gejagt habe, das wolle sie ihm insbesondere sagen. Mit Kopfschütteln hatte der Bauer diese Rede der Großmutter vernommen; als sie geendet, wandte er sich zu seiner Tochter um. Sie weinte noch immer, es schien aber ihre Lage keinen Eindruck auf den harten Mann zu machen. Anezka still vor sich hinweinend in der Mitte der Stube stand. Mit stummer Leidenschaft schritt Josseph auf und nieder, aber seine Gedanken waren nicht alle in der Stube. Es währte nicht lange, so erschollen draußen in der Nacht die schweren Tritte des Bauern Stepan Parzik. Ohne seinen gewöhnlichen Gruß von der „Freiheit und ihren Teufeln“ trat er in die Stube, und ohne auf die Tochter einen Blick zu werfen, ging er gerade auf das Bett der Großmutter zu. Was wollt Ihr, Jüdin? fragte er ohne Umschweif. In kurzen, nur mühsam aus keuchender Brust hervorgebrachten Worten berichtete ihm die alte Marjim, was sich so eben zugetragen. Sie habe es für ihre Schuldigkeit gehalten, ihn rufen zu lassen, damit er als Vater doch auch wisse, was seine Tochter zu beginnen sich vorgenommen habe. Zwingen wollte sie Anezka nicht zum Bleiben, denn wenn einer nicht Lust mehr habe, auf einem Orte zu bleiben, so könnten zehntausend Pferde ihn nicht halten; aber der Vater müsse doch auch wissen, was mit der Tochter vorgehe; und daß man sie nicht bei Nacht und Nebel aus dem Dienste gejagt habe, das wolle sie ihm insbesondere sagen. Mit Kopfschütteln hatte der Bauer diese Rede der Großmutter vernommen; als sie geendet, wandte er sich zu seiner Tochter um. Sie weinte noch immer, es schien aber ihre Lage keinen Eindruck auf den harten Mann zu machen. <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="6"> <p><pb facs="#f0095"/> Anezka still vor sich hinweinend in der Mitte der Stube stand. Mit stummer Leidenschaft schritt Josseph auf und nieder, aber seine Gedanken waren nicht alle in der Stube.</p><lb/> <p>Es währte nicht lange, so erschollen draußen in der Nacht die schweren Tritte des Bauern Stepan Parzik. Ohne seinen gewöhnlichen Gruß von der „Freiheit und ihren Teufeln“ trat er in die Stube, und ohne auf die Tochter einen Blick zu werfen, ging er gerade auf das Bett der Großmutter zu.</p><lb/> <p>Was wollt Ihr, Jüdin? fragte er ohne Umschweif.</p><lb/> <p>In kurzen, nur mühsam aus keuchender Brust hervorgebrachten Worten berichtete ihm die alte Marjim, was sich so eben zugetragen. Sie habe es für ihre Schuldigkeit gehalten, ihn rufen zu lassen, damit er als Vater doch auch wisse, was seine Tochter zu beginnen sich vorgenommen habe. Zwingen wollte sie Anezka nicht zum Bleiben, denn wenn einer nicht Lust mehr habe, auf einem Orte zu bleiben, so könnten zehntausend Pferde ihn nicht halten; aber der Vater müsse doch auch wissen, was mit der Tochter vorgehe; und daß man sie nicht bei Nacht und Nebel aus dem Dienste gejagt habe, das wolle sie ihm insbesondere sagen.</p><lb/> <p>Mit Kopfschütteln hatte der Bauer diese Rede der Großmutter vernommen; als sie geendet, wandte er sich zu seiner Tochter um. Sie weinte noch immer, es schien aber ihre Lage keinen Eindruck auf den harten Mann zu machen.</p><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [0095]
Anezka still vor sich hinweinend in der Mitte der Stube stand. Mit stummer Leidenschaft schritt Josseph auf und nieder, aber seine Gedanken waren nicht alle in der Stube.
Es währte nicht lange, so erschollen draußen in der Nacht die schweren Tritte des Bauern Stepan Parzik. Ohne seinen gewöhnlichen Gruß von der „Freiheit und ihren Teufeln“ trat er in die Stube, und ohne auf die Tochter einen Blick zu werfen, ging er gerade auf das Bett der Großmutter zu.
Was wollt Ihr, Jüdin? fragte er ohne Umschweif.
In kurzen, nur mühsam aus keuchender Brust hervorgebrachten Worten berichtete ihm die alte Marjim, was sich so eben zugetragen. Sie habe es für ihre Schuldigkeit gehalten, ihn rufen zu lassen, damit er als Vater doch auch wisse, was seine Tochter zu beginnen sich vorgenommen habe. Zwingen wollte sie Anezka nicht zum Bleiben, denn wenn einer nicht Lust mehr habe, auf einem Orte zu bleiben, so könnten zehntausend Pferde ihn nicht halten; aber der Vater müsse doch auch wissen, was mit der Tochter vorgehe; und daß man sie nicht bei Nacht und Nebel aus dem Dienste gejagt habe, das wolle sie ihm insbesondere sagen.
Mit Kopfschütteln hatte der Bauer diese Rede der Großmutter vernommen; als sie geendet, wandte er sich zu seiner Tochter um. Sie weinte noch immer, es schien aber ihre Lage keinen Eindruck auf den harten Mann zu machen.
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