Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.vorgegangen zu sein. Sie verrichtete ihre Hausgeschäfte in einer Art träumerischer Zerstreutheit; sie pflegte die Großmutter nicht mehr so aufmerksam; oft fand man sie mit verweinten Augen. Fragte man sie, woran es ihr gebreche, so gab sie gewöhnlich störrische Antworten, die mehr verletzten als aufklärten. Im Hause hatte man die Wandlung, die im Leben der Magd vorgegangen, bald herausgefühlt, denn die Familie ist ein lebendiger Organismus, der jede Störung in seinem gewohnten Dasein mit tausend zuckenden Nerven empfindet. Josseph war der Meinung, sie müsse einen Liebhaber haben, denn sie sei bereits in die Jahre gekommen; die alte Marjim aber protestirte gegen diese Ansicht, was sie nur konnte. Wenn man einen Liebhaber hat, lautete einer ihrer Beweisgründe, so sehe man ganz anders aus. Weinen thue man sehr oft, aber lachen noch viel öfter; man sei eben ein ganz anderer Mensch in jener Zeit. Auch wüßte sie keinen Bauernjungen im ganzen Dorfe, mit dem Anezka sich in eine Liebschaft einlassen könnte. Geld habe sie so keines, und bloß, damit sie Einen habe, der sie Sonntags in das Wirthshaus führe, dazu habe sie einen zu "jüdischen" Kopf. Nichts desto weniger blieb Josseph der einmal vorgefaßten Meinung getreu, daß mit Anezka etwas vorgegangen sein müsse, denn sie sei wie "ausgewechselt". -- Diese Auswechselung äußerte sich vorzüglich darin, daß die Magd seit einiger Zeit öfter aus dem Hause vorgegangen zu sein. Sie verrichtete ihre Hausgeschäfte in einer Art träumerischer Zerstreutheit; sie pflegte die Großmutter nicht mehr so aufmerksam; oft fand man sie mit verweinten Augen. Fragte man sie, woran es ihr gebreche, so gab sie gewöhnlich störrische Antworten, die mehr verletzten als aufklärten. Im Hause hatte man die Wandlung, die im Leben der Magd vorgegangen, bald herausgefühlt, denn die Familie ist ein lebendiger Organismus, der jede Störung in seinem gewohnten Dasein mit tausend zuckenden Nerven empfindet. Josseph war der Meinung, sie müsse einen Liebhaber haben, denn sie sei bereits in die Jahre gekommen; die alte Marjim aber protestirte gegen diese Ansicht, was sie nur konnte. Wenn man einen Liebhaber hat, lautete einer ihrer Beweisgründe, so sehe man ganz anders aus. Weinen thue man sehr oft, aber lachen noch viel öfter; man sei eben ein ganz anderer Mensch in jener Zeit. Auch wüßte sie keinen Bauernjungen im ganzen Dorfe, mit dem Anezka sich in eine Liebschaft einlassen könnte. Geld habe sie so keines, und bloß, damit sie Einen habe, der sie Sonntags in das Wirthshaus führe, dazu habe sie einen zu „jüdischen“ Kopf. Nichts desto weniger blieb Josseph der einmal vorgefaßten Meinung getreu, daß mit Anezka etwas vorgegangen sein müsse, denn sie sei wie „ausgewechselt“. — Diese Auswechselung äußerte sich vorzüglich darin, daß die Magd seit einiger Zeit öfter aus dem Hause <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="6"> <p><pb facs="#f0085"/> vorgegangen zu sein. Sie verrichtete ihre Hausgeschäfte in einer Art träumerischer Zerstreutheit; sie pflegte die Großmutter nicht mehr so aufmerksam; oft fand man sie mit verweinten Augen. Fragte man sie, woran es ihr gebreche, so gab sie gewöhnlich störrische Antworten, die mehr verletzten als aufklärten. Im Hause hatte man die Wandlung, die im Leben der Magd vorgegangen, bald herausgefühlt, denn die Familie ist ein lebendiger Organismus, der jede Störung in seinem gewohnten Dasein mit tausend zuckenden Nerven empfindet. Josseph war der Meinung, sie müsse einen Liebhaber haben, denn sie sei bereits in die Jahre gekommen; die alte Marjim aber protestirte gegen diese Ansicht, was sie nur konnte. Wenn man einen Liebhaber hat, lautete einer ihrer Beweisgründe, so sehe man ganz anders aus. Weinen thue man sehr oft, aber lachen noch viel öfter; man sei eben ein ganz anderer Mensch in jener Zeit. Auch wüßte sie keinen Bauernjungen im ganzen Dorfe, mit dem Anezka sich in eine Liebschaft einlassen könnte. Geld habe sie so keines, und bloß, damit sie Einen habe, der sie Sonntags in das Wirthshaus führe, dazu habe sie einen zu „jüdischen“ Kopf. Nichts desto weniger blieb Josseph der einmal vorgefaßten Meinung getreu, daß mit Anezka etwas vorgegangen sein müsse, denn sie sei wie „ausgewechselt“. —</p><lb/> <p>Diese Auswechselung äußerte sich vorzüglich darin, daß die Magd seit einiger Zeit öfter aus dem Hause<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0085]
vorgegangen zu sein. Sie verrichtete ihre Hausgeschäfte in einer Art träumerischer Zerstreutheit; sie pflegte die Großmutter nicht mehr so aufmerksam; oft fand man sie mit verweinten Augen. Fragte man sie, woran es ihr gebreche, so gab sie gewöhnlich störrische Antworten, die mehr verletzten als aufklärten. Im Hause hatte man die Wandlung, die im Leben der Magd vorgegangen, bald herausgefühlt, denn die Familie ist ein lebendiger Organismus, der jede Störung in seinem gewohnten Dasein mit tausend zuckenden Nerven empfindet. Josseph war der Meinung, sie müsse einen Liebhaber haben, denn sie sei bereits in die Jahre gekommen; die alte Marjim aber protestirte gegen diese Ansicht, was sie nur konnte. Wenn man einen Liebhaber hat, lautete einer ihrer Beweisgründe, so sehe man ganz anders aus. Weinen thue man sehr oft, aber lachen noch viel öfter; man sei eben ein ganz anderer Mensch in jener Zeit. Auch wüßte sie keinen Bauernjungen im ganzen Dorfe, mit dem Anezka sich in eine Liebschaft einlassen könnte. Geld habe sie so keines, und bloß, damit sie Einen habe, der sie Sonntags in das Wirthshaus führe, dazu habe sie einen zu „jüdischen“ Kopf. Nichts desto weniger blieb Josseph der einmal vorgefaßten Meinung getreu, daß mit Anezka etwas vorgegangen sein müsse, denn sie sei wie „ausgewechselt“. —
Diese Auswechselung äußerte sich vorzüglich darin, daß die Magd seit einiger Zeit öfter aus dem Hause
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Zitationshilfe: | Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kompert_verlorene_1910/85>, abgerufen am 29.06.2024. |