Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Dorfgeschichte angehört, indem er fast ausschließlich das Leben im Ghetto und in den jüdischen Dörfern seiner Heimath schildert. Auf den ersten Blick möchte dieses Stoffgebiet noch beschränkter erscheinen, als der Kreis der bäuerlichen Zustände, wie Gotthelf, Auerbach, Mehr u. A. sie novellistisch ausgebeutet haben, und bei der Abneigung, die ein großer Theil der Gebildeten und Ungebildeten immer noch gegen alles jüdische Wesen empfindet, wäre es kaum auffallend, wenn ein Dichter, dessen Heimathsgefühl ihn immer wieder zu den Verkannten und Gemiedenen zurückzieht, nicht sonderlichen Anklang fände. Obwohl aber diese Dichtungen,*) die beinahe sämmtlich ins Französische, Englische, Russische, Holländische und Dänische übersetzt worden, in Deutschland lange noch nicht nach Verdienst verbreitet sind, so haben sie doch überall Aussehen erregt und warme Freunde gefunden. Und freilich ist nichts geeigneter, angewurzelte Vorurtheile zu besiegen, als diese Bilder des jüdischen Lebens, wie Kompert sie mit ergreifender Innigkeit, dabei ohne Verhüllung oder Beschönigung der Schroffheiten und Verkehrtheiten seiner Stammesgenossen, in unerschöpflicher Mannigfaltigkeit entworfen hat. Nur auf den ersten Blick nämlich möchte es scheinen, als ob auch die reichste Dichterphantasie in einer Cultursphäre, deren traditionelle Schranken durch den Bann des Gesetzes noch starrer aufgerichtet sind, als die Convention der Sitte, die das Leben westphälischer, Schwarzwälder und Rieser Bauern einengt, bald um neue Motive verlegen sein müßte. Dagegen ist zu bedenken, in wie viele Uebergänge und Abstufungen die moderne christliche Bildung diese abgeschlossene Welt zerklüftet hat, wie mannigfaltig unter dem Einflüsse verschiedenster Berufe und socialer Stellungen die Charaktere sich ausprägen konnten. Vor Allem aber ist Kompert nachzurühmen, daß er als ein wahrer Dichter sich dieser Fülle von Motiven bemächtigt hat, daß *) Geschichten aus dem Ghetto (1848); Böhmische Juden (1851); Am Pflug (2 Bde., 1853); Neue Geschichten aus dem Ghetto (2 Bde., 1860) und Geschichten einer Gasse (1865).
Dorfgeschichte angehört, indem er fast ausschließlich das Leben im Ghetto und in den jüdischen Dörfern seiner Heimath schildert. Auf den ersten Blick möchte dieses Stoffgebiet noch beschränkter erscheinen, als der Kreis der bäuerlichen Zustände, wie Gotthelf, Auerbach, Mehr u. A. sie novellistisch ausgebeutet haben, und bei der Abneigung, die ein großer Theil der Gebildeten und Ungebildeten immer noch gegen alles jüdische Wesen empfindet, wäre es kaum auffallend, wenn ein Dichter, dessen Heimathsgefühl ihn immer wieder zu den Verkannten und Gemiedenen zurückzieht, nicht sonderlichen Anklang fände. Obwohl aber diese Dichtungen,*) die beinahe sämmtlich ins Französische, Englische, Russische, Holländische und Dänische übersetzt worden, in Deutschland lange noch nicht nach Verdienst verbreitet sind, so haben sie doch überall Aussehen erregt und warme Freunde gefunden. Und freilich ist nichts geeigneter, angewurzelte Vorurtheile zu besiegen, als diese Bilder des jüdischen Lebens, wie Kompert sie mit ergreifender Innigkeit, dabei ohne Verhüllung oder Beschönigung der Schroffheiten und Verkehrtheiten seiner Stammesgenossen, in unerschöpflicher Mannigfaltigkeit entworfen hat. Nur auf den ersten Blick nämlich möchte es scheinen, als ob auch die reichste Dichterphantasie in einer Cultursphäre, deren traditionelle Schranken durch den Bann des Gesetzes noch starrer aufgerichtet sind, als die Convention der Sitte, die das Leben westphälischer, Schwarzwälder und Rieser Bauern einengt, bald um neue Motive verlegen sein müßte. Dagegen ist zu bedenken, in wie viele Uebergänge und Abstufungen die moderne christliche Bildung diese abgeschlossene Welt zerklüftet hat, wie mannigfaltig unter dem Einflüsse verschiedenster Berufe und socialer Stellungen die Charaktere sich ausprägen konnten. Vor Allem aber ist Kompert nachzurühmen, daß er als ein wahrer Dichter sich dieser Fülle von Motiven bemächtigt hat, daß *) Geschichten aus dem Ghetto (1848); Böhmische Juden (1851); Am Pflug (2 Bde., 1853); Neue Geschichten aus dem Ghetto (2 Bde., 1860) und Geschichten einer Gasse (1865).
<TEI> <text> <front> <div type="preface"> <p><pb facs="#f0006"/> Dorfgeschichte angehört, indem er fast ausschließlich das Leben im Ghetto und in den jüdischen Dörfern seiner Heimath schildert. Auf den ersten Blick möchte dieses Stoffgebiet noch beschränkter erscheinen, als der Kreis der bäuerlichen Zustände, wie Gotthelf, Auerbach, Mehr u. A. sie novellistisch ausgebeutet haben, und bei der Abneigung, die ein großer Theil der Gebildeten und Ungebildeten immer noch gegen alles jüdische Wesen empfindet, wäre es kaum auffallend, wenn ein Dichter, dessen Heimathsgefühl ihn immer wieder zu den Verkannten und Gemiedenen zurückzieht, nicht sonderlichen Anklang fände. Obwohl aber diese Dichtungen,<note place="foot" n="*)">Geschichten aus dem Ghetto (1848); Böhmische Juden (1851); Am Pflug (2 Bde., 1853); Neue Geschichten aus dem Ghetto (2 Bde., 1860) und Geschichten einer Gasse (1865).</note> die beinahe sämmtlich ins Französische, Englische, Russische, Holländische und Dänische übersetzt worden, in Deutschland lange noch nicht nach Verdienst verbreitet sind, so haben sie doch überall Aussehen erregt und warme Freunde gefunden. Und freilich ist nichts geeigneter, angewurzelte Vorurtheile zu besiegen, als diese Bilder des jüdischen Lebens, wie Kompert sie mit ergreifender Innigkeit, dabei ohne Verhüllung oder Beschönigung der Schroffheiten und Verkehrtheiten seiner Stammesgenossen, in unerschöpflicher Mannigfaltigkeit entworfen hat. Nur auf den ersten Blick nämlich möchte es scheinen, als ob auch die reichste Dichterphantasie in einer Cultursphäre, deren traditionelle Schranken durch den Bann des Gesetzes noch starrer aufgerichtet sind, als die Convention der Sitte, die das Leben westphälischer, Schwarzwälder und Rieser Bauern einengt, bald um neue Motive verlegen sein müßte. Dagegen ist zu bedenken, in wie viele Uebergänge und Abstufungen die moderne christliche Bildung diese abgeschlossene Welt zerklüftet hat, wie mannigfaltig unter dem Einflüsse verschiedenster Berufe und socialer Stellungen die Charaktere sich ausprägen konnten. Vor Allem aber ist Kompert nachzurühmen, daß er als ein wahrer Dichter sich dieser Fülle von Motiven bemächtigt hat, daß<lb/></p> </div> </front> </text> </TEI> [0006]
Dorfgeschichte angehört, indem er fast ausschließlich das Leben im Ghetto und in den jüdischen Dörfern seiner Heimath schildert. Auf den ersten Blick möchte dieses Stoffgebiet noch beschränkter erscheinen, als der Kreis der bäuerlichen Zustände, wie Gotthelf, Auerbach, Mehr u. A. sie novellistisch ausgebeutet haben, und bei der Abneigung, die ein großer Theil der Gebildeten und Ungebildeten immer noch gegen alles jüdische Wesen empfindet, wäre es kaum auffallend, wenn ein Dichter, dessen Heimathsgefühl ihn immer wieder zu den Verkannten und Gemiedenen zurückzieht, nicht sonderlichen Anklang fände. Obwohl aber diese Dichtungen, *) die beinahe sämmtlich ins Französische, Englische, Russische, Holländische und Dänische übersetzt worden, in Deutschland lange noch nicht nach Verdienst verbreitet sind, so haben sie doch überall Aussehen erregt und warme Freunde gefunden. Und freilich ist nichts geeigneter, angewurzelte Vorurtheile zu besiegen, als diese Bilder des jüdischen Lebens, wie Kompert sie mit ergreifender Innigkeit, dabei ohne Verhüllung oder Beschönigung der Schroffheiten und Verkehrtheiten seiner Stammesgenossen, in unerschöpflicher Mannigfaltigkeit entworfen hat. Nur auf den ersten Blick nämlich möchte es scheinen, als ob auch die reichste Dichterphantasie in einer Cultursphäre, deren traditionelle Schranken durch den Bann des Gesetzes noch starrer aufgerichtet sind, als die Convention der Sitte, die das Leben westphälischer, Schwarzwälder und Rieser Bauern einengt, bald um neue Motive verlegen sein müßte. Dagegen ist zu bedenken, in wie viele Uebergänge und Abstufungen die moderne christliche Bildung diese abgeschlossene Welt zerklüftet hat, wie mannigfaltig unter dem Einflüsse verschiedenster Berufe und socialer Stellungen die Charaktere sich ausprägen konnten. Vor Allem aber ist Kompert nachzurühmen, daß er als ein wahrer Dichter sich dieser Fülle von Motiven bemächtigt hat, daß
*) Geschichten aus dem Ghetto (1848); Böhmische Juden (1851); Am Pflug (2 Bde., 1853); Neue Geschichten aus dem Ghetto (2 Bde., 1860) und Geschichten einer Gasse (1865).
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription.
(2017-03-15T13:25:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2017-03-15T13:25:39Z)
Weitere Informationen:Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |