Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

Mit leuchtenden Blicken sah sie dann in die heiteren Flammen, die von den ölgetränkten Dochten der siebenzinkigen Lampe ausgingen. Sie hatte sie so lange selbst entzündet, und nun mußte ein Anderer sie in seine Hut nehmen. Von Minute zu Minute wurden jetzt ihre Lebensgeister schwächer; die scheidende Seele hatte bereits ihre Fittige zum Fluge ausgespannt.

Fradel, das fromme Weib, rief jetzt: Es dauert keine Sekund' mehr; und mit lauter Stimme begann sie den letzten Spruch für Sterbende:

Höre, Israel, der Gott, dein Gott ist ein einziger Gott, was sie und die zwei anderen Weiber drei Mal wiederholten. Die Lippen der alten Marjim bewegten sich leise dazu; sie schlug noch einmal die Augen auf, um sie für immer zu schließen. --

Während Madlena sich verzweiflungsvoll über die Leiche warf, betete Pawel mit seinen Kindern ein dreimaliges Vater unser. Fischele und Josseph standen in stummem Schmerz daneben.

Eine Viertelstunde hierauf läutete das Sterbeglöcklein für die gestorbene Jüdin. Der Pfarrer, der ihren Tod vernommen, hatte es so angeordnet. Die hat's so verdient, sagte er, daß man ihr eine Ehre anthut!

Am Begräbnißtage der alten Marjim, die man nach dem stillen Bunzlauer Friedhof an der Prager Straße trug, erscholl in aller Frühe vor dem Leichen-

Mit leuchtenden Blicken sah sie dann in die heiteren Flammen, die von den ölgetränkten Dochten der siebenzinkigen Lampe ausgingen. Sie hatte sie so lange selbst entzündet, und nun mußte ein Anderer sie in seine Hut nehmen. Von Minute zu Minute wurden jetzt ihre Lebensgeister schwächer; die scheidende Seele hatte bereits ihre Fittige zum Fluge ausgespannt.

Fradel, das fromme Weib, rief jetzt: Es dauert keine Sekund' mehr; und mit lauter Stimme begann sie den letzten Spruch für Sterbende:

Höre, Israel, der Gott, dein Gott ist ein einziger Gott, was sie und die zwei anderen Weiber drei Mal wiederholten. Die Lippen der alten Marjim bewegten sich leise dazu; sie schlug noch einmal die Augen auf, um sie für immer zu schließen. —

Während Madlena sich verzweiflungsvoll über die Leiche warf, betete Pawel mit seinen Kindern ein dreimaliges Vater unser. Fischele und Josseph standen in stummem Schmerz daneben.

Eine Viertelstunde hierauf läutete das Sterbeglöcklein für die gestorbene Jüdin. Der Pfarrer, der ihren Tod vernommen, hatte es so angeordnet. Die hat's so verdient, sagte er, daß man ihr eine Ehre anthut!

Am Begräbnißtage der alten Marjim, die man nach dem stillen Bunzlauer Friedhof an der Prager Straße trug, erscholl in aller Frühe vor dem Leichen-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="chapter" n="15">
        <pb facs="#f0215"/>
        <p>Mit leuchtenden Blicken sah sie dann in die heiteren Flammen, die von den                ölgetränkten Dochten der siebenzinkigen Lampe ausgingen. Sie hatte sie so lange                selbst entzündet, und nun mußte ein Anderer sie in seine Hut nehmen. Von Minute zu                Minute wurden jetzt ihre Lebensgeister schwächer; die scheidende Seele hatte bereits                ihre Fittige zum Fluge ausgespannt.</p><lb/>
        <p>Fradel, das fromme Weib, rief jetzt: Es dauert keine Sekund' mehr; und mit lauter                Stimme begann sie den letzten Spruch für Sterbende:</p><lb/>
        <p>Höre, Israel, der Gott, dein Gott ist ein einziger Gott, was sie und die zwei anderen                Weiber drei Mal wiederholten. Die Lippen der alten Marjim bewegten sich leise dazu;                sie schlug noch einmal die Augen auf, um sie für immer zu schließen. &#x2014;</p><lb/>
        <p>Während Madlena sich verzweiflungsvoll über die Leiche warf, betete Pawel mit seinen                Kindern ein dreimaliges Vater unser. Fischele und Josseph standen in stummem Schmerz                daneben.</p><lb/>
        <p>Eine Viertelstunde hierauf läutete das Sterbeglöcklein für die gestorbene Jüdin. Der                Pfarrer, der ihren Tod vernommen, hatte es so angeordnet. Die hat's so verdient,                sagte er, daß man ihr eine Ehre anthut!</p><lb/>
        <p>Am Begräbnißtage der alten Marjim, die man nach dem stillen Bunzlauer Friedhof an der                Prager Straße trug, erscholl in aller Frühe vor dem Leichen-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0215] Mit leuchtenden Blicken sah sie dann in die heiteren Flammen, die von den ölgetränkten Dochten der siebenzinkigen Lampe ausgingen. Sie hatte sie so lange selbst entzündet, und nun mußte ein Anderer sie in seine Hut nehmen. Von Minute zu Minute wurden jetzt ihre Lebensgeister schwächer; die scheidende Seele hatte bereits ihre Fittige zum Fluge ausgespannt. Fradel, das fromme Weib, rief jetzt: Es dauert keine Sekund' mehr; und mit lauter Stimme begann sie den letzten Spruch für Sterbende: Höre, Israel, der Gott, dein Gott ist ein einziger Gott, was sie und die zwei anderen Weiber drei Mal wiederholten. Die Lippen der alten Marjim bewegten sich leise dazu; sie schlug noch einmal die Augen auf, um sie für immer zu schließen. — Während Madlena sich verzweiflungsvoll über die Leiche warf, betete Pawel mit seinen Kindern ein dreimaliges Vater unser. Fischele und Josseph standen in stummem Schmerz daneben. Eine Viertelstunde hierauf läutete das Sterbeglöcklein für die gestorbene Jüdin. Der Pfarrer, der ihren Tod vernommen, hatte es so angeordnet. Die hat's so verdient, sagte er, daß man ihr eine Ehre anthut! Am Begräbnißtage der alten Marjim, die man nach dem stillen Bunzlauer Friedhof an der Prager Straße trug, erscholl in aller Frühe vor dem Leichen-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T13:25:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T13:25:39Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kompert_verlorene_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kompert_verlorene_1910/215
Zitationshilfe: Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kompert_verlorene_1910/215>, abgerufen am 27.11.2024.