Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Josseph's Augen sich verständigende Blicke über die merkwürdigen Aeußerungen, die fast wie Prophezeiungen aus dem Munde der alten Frau hervorkamen. Die ganze Nacht saßen die Drei in traulichen Gesprächen beisammen, und nie gingen die Engel des innersten Verständnisses mit leuchtenderen, schöneren Fittigen durch die engen Räume einer Menschenwohnung, als in dieser Nacht durch die stille Stube des einzigen Judenhauses im Dorfe. Kein Auge schloß sich in dieser heiligen Nacht. Erst gegen Morgen wurde Marjim auffallend schwächer; ihre Augen verloren allen Glanz, auch stockte sie schon im Sprechen. Ein leises Frösteln durchzitterte ihren ganzen Körper; man mußte sie mit zweifachen Decken wärmen, dennoch schauerte sie vor tiefinnerster Todeskälte. Gegen acht Uhr Morgens kamen die frommen Weiber aus Bunzlau; die Eine von ihnen, eine stämmige große Gestalt, bekannt unter dem Namen "Fradel die Seelenchapperin", die sich aus langer Uebung auf den Tod verstand, sagte sogleich, als sie der alten Frau ansichtig wurde, leise zu Josseph: Sie hält's noch bis gegen Abend aus. Trotzdem diese Worte für jedes andere Ohr fast unvernehmbar gesprochen wurden, hatte sie die alte Marjim doch gehört. Mit fast verdrießlichem Tone rief sie von ihrem Lager: Da braucht man eben kein Josseph's Augen sich verständigende Blicke über die merkwürdigen Aeußerungen, die fast wie Prophezeiungen aus dem Munde der alten Frau hervorkamen. Die ganze Nacht saßen die Drei in traulichen Gesprächen beisammen, und nie gingen die Engel des innersten Verständnisses mit leuchtenderen, schöneren Fittigen durch die engen Räume einer Menschenwohnung, als in dieser Nacht durch die stille Stube des einzigen Judenhauses im Dorfe. Kein Auge schloß sich in dieser heiligen Nacht. Erst gegen Morgen wurde Marjim auffallend schwächer; ihre Augen verloren allen Glanz, auch stockte sie schon im Sprechen. Ein leises Frösteln durchzitterte ihren ganzen Körper; man mußte sie mit zweifachen Decken wärmen, dennoch schauerte sie vor tiefinnerster Todeskälte. Gegen acht Uhr Morgens kamen die frommen Weiber aus Bunzlau; die Eine von ihnen, eine stämmige große Gestalt, bekannt unter dem Namen „Fradel die Seelenchapperin“, die sich aus langer Uebung auf den Tod verstand, sagte sogleich, als sie der alten Frau ansichtig wurde, leise zu Josseph: Sie hält's noch bis gegen Abend aus. Trotzdem diese Worte für jedes andere Ohr fast unvernehmbar gesprochen wurden, hatte sie die alte Marjim doch gehört. Mit fast verdrießlichem Tone rief sie von ihrem Lager: Da braucht man eben kein <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="15"> <p><pb facs="#f0211"/> Josseph's Augen sich verständigende Blicke über die merkwürdigen Aeußerungen, die fast wie Prophezeiungen aus dem Munde der alten Frau hervorkamen.</p><lb/> <p>Die ganze Nacht saßen die Drei in traulichen Gesprächen beisammen, und nie gingen die Engel des innersten Verständnisses mit leuchtenderen, schöneren Fittigen durch die engen Räume einer Menschenwohnung, als in dieser Nacht durch die stille Stube des einzigen Judenhauses im Dorfe.</p><lb/> <p>Kein Auge schloß sich in dieser heiligen Nacht.</p><lb/> <p>Erst gegen Morgen wurde Marjim auffallend schwächer; ihre Augen verloren allen Glanz, auch stockte sie schon im Sprechen. Ein leises Frösteln durchzitterte ihren ganzen Körper; man mußte sie mit zweifachen Decken wärmen, dennoch schauerte sie vor tiefinnerster Todeskälte.</p><lb/> <p>Gegen acht Uhr Morgens kamen die frommen Weiber aus Bunzlau; die Eine von ihnen, eine stämmige große Gestalt, bekannt unter dem Namen „Fradel die Seelenchapperin“, die sich aus langer Uebung auf den Tod verstand, sagte sogleich, als sie der alten Frau ansichtig wurde, leise zu Josseph: Sie hält's noch bis gegen Abend aus.</p><lb/> <p>Trotzdem diese Worte für jedes andere Ohr fast unvernehmbar gesprochen wurden, hatte sie die alte Marjim doch gehört. Mit fast verdrießlichem Tone rief sie von ihrem Lager: Da braucht man eben kein<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0211]
Josseph's Augen sich verständigende Blicke über die merkwürdigen Aeußerungen, die fast wie Prophezeiungen aus dem Munde der alten Frau hervorkamen.
Die ganze Nacht saßen die Drei in traulichen Gesprächen beisammen, und nie gingen die Engel des innersten Verständnisses mit leuchtenderen, schöneren Fittigen durch die engen Räume einer Menschenwohnung, als in dieser Nacht durch die stille Stube des einzigen Judenhauses im Dorfe.
Kein Auge schloß sich in dieser heiligen Nacht.
Erst gegen Morgen wurde Marjim auffallend schwächer; ihre Augen verloren allen Glanz, auch stockte sie schon im Sprechen. Ein leises Frösteln durchzitterte ihren ganzen Körper; man mußte sie mit zweifachen Decken wärmen, dennoch schauerte sie vor tiefinnerster Todeskälte.
Gegen acht Uhr Morgens kamen die frommen Weiber aus Bunzlau; die Eine von ihnen, eine stämmige große Gestalt, bekannt unter dem Namen „Fradel die Seelenchapperin“, die sich aus langer Uebung auf den Tod verstand, sagte sogleich, als sie der alten Frau ansichtig wurde, leise zu Josseph: Sie hält's noch bis gegen Abend aus.
Trotzdem diese Worte für jedes andere Ohr fast unvernehmbar gesprochen wurden, hatte sie die alte Marjim doch gehört. Mit fast verdrießlichem Tone rief sie von ihrem Lager: Da braucht man eben kein
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Zitationshilfe: | Kompert, Leopold: Eine Verlorene. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 95–309. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kompert_verlorene_1910/211>, abgerufen am 16.07.2024. |